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Soziale Praxis in Athen hilft Bedürftigen

Daphne Grathwohl16. Dezember 2012

In Griechenland wächst die Zahl der Armen immer weiter. Wer dann noch krank wird, fällt ins Bodenlose. Da hilft den Menschen nur noch grenzenlose Solidarität oder eine Stadtteil-Praxis für die Bedürftigen.

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Die Annahme mit Patienten in der Sozialen Praxis Ellinikon, Athen (MKI) (Foto: Daphne Grathwohl /DW)
Bild: DW/D. Grathwohl

Mit Mühe hält sich die kleine Athiná auf den Beinen. "Ihr ist schwindelig vor Hunger", sagt Élena Bazakopoulou. Sie kniet sich neben das Mädchen und reicht ihr etwas Süßes und schlägt vor: "Du bleibst ein bisschen sitzen und nimmst die Püppchen auf den Schoß." Schnell taut Athiná auf, als Èlena mit ihr über die Schule und ihre sechs Geschwister spricht. "Ihr habt bestimmt Spaß, wenn alle zusammen sind? Oder streitet ihr euch etwa?" "Naja", kichert Athiná, "mit Odysséas und Iraklís streiten wir uns schon, wem was gehört und so."

Am Vortag ist der Familie das Wasser abgestellt worden. Sie konnte die Rechnung nicht mehr bezahlen. Aber das ist nicht das größte Problem der Familie. Athinás' Bruder hat einen Herzfehler. Deshalb suchte die Mutter hier in der "Metropolitischen Sozialen Praxis" auf der ehemaligen amerikanischen Militärbasis im südlichen Athener Stadtteil Ellinikón Hilfe.

Arm, arbeitslos und - krank

Am 15. Dezember 2011 wurde die Praxis von vier Ärzten und sieben weiteren Freiwilligen rund um den Kardiologen Giorgos Víchas gegründet. Er habe erlebt, dass immer mehr Menschen arbeitslos wurden und jeglichen Zugang zu medizinischer Versorgung verloren, sagt er. Bis August 2012 kamen etwa 1200 Patienten. Dann gab es einen rasanten Zuwachs: Allein in den vergangenen drei Monaten haben noch einmal 1800 Menschen Hilfe in der Sozialen Praxis gesucht.

Georgios Vichas (Foto: Daphne Grathwohl/DW)
Täglich in der Praxis: der Kardiologe Georgios VichasBild: DW/D. Grathwohl

Mittlerweile arbeiten rund 70 Ärzte, Zahnärzte, Pharmakologen, Psychologen und andere Therapeuten in der Praxis - stunden- oder tageweise neben der eigentlichen Arbeit. Der Kardiologe Giorgos Víchas selbst hat donnerstags und samstags Sprechstunde und schaut nahezu täglich vorbei, um Organisatorisches zu klären. Etwa 100 weitere Freiwillige koordinieren die Termine, ihre eigene Arbeit und die Spenden.

Kein Cash – keine Chemotherapie?

Die Annahme an der Rezeption ist das Herz der Praxis, sagt Élena Bazakopoulou. Freie Termine gibt es in den nächsten vier Wochen eigentlich keine mehr. Deshalb sucht das Team nach immer neuen Kollegen. Auch die Kooperation mit Krankenhäusern soll ausgebaut werden. Schon jetzt werden Krebs-Patienten der Praxis zum Beispiel in der Onkologie der Universitäts-Klinik Sotiría behandelt. Eine krebskranke Frau habe nach der Diagnose vier Monate in Krankenhäusern um eine Chemotherapie gebeten - vergebens, denn sie konnte nicht bezahlen. Als sie in die Praxis kam, war der Krebs schon weit fortgeschritten. Sie wurde ins Sotiría überwiesen und erhielt die lebensrettende Chemotherapie kostenlos.

Ein Vorrat am Milch und Windeln (Foto: Daphne Grathwohl/DW)
Milch und Windeln für die KleinenBild: DW/D. Grathwohl

Zwei Geburtskliniken kooperieren ebenfalls. Eine erste Patientin hat dort bereits entbunden, ein kerngesundes Mädchen. Die Schwangere kam im siebten Monat in die Praxis. Bis dahin hatte sie keine einzige Vorsorgeuntersuchung gemacht und war verzweifelt, weil sie nicht wusste, wo sie entbinden würde. "Nach der Geburt brachte sie das Kind hierher zur kinderärztlichen Untersuchung. Sie hatte eine solche Freude in ihren Augen, weil das Abenteuer Schwangerschaft glimpflich zu Ende gegangen war - ein bewegender Moment für das ganze Praxisteam", erinnert sich Giorgos Víchas.

Sachspenden und Arbeit willkommen

In der Apotheke lagern alle Arten von Arzneien - von der Kopfschmerztablette bis zu Medikamenten für Chemotherapien. Manchmal bringen Angehörige von Krebspatienten, die verstorben sind, die Reste der Chemotherapie-Medikamente hierher. Der ganze Stolz der Praxis ist ein Behandlungsstuhl, den ein Zahnarzt spendete, als er in Rente ging. Geldspenden werden nicht angenommen. Überhaupt wolle man nicht das bestehende Gesundheitssystem ersetzen, erklärt Élena Bazakopoulou. Im Gegenteil könne man die Praxis durchaus als Anklage gegen das bestehende System verstehen.

Zahnarztstuhl, Soziale Praxis Ellinikon, Athen (MKI) (Foto: Daphne Grathwohl/DW)
Der ganze Stolz: ein alter ZahnarztstuhlBild: DW/D. Grathwohl

Bargeld, gerne in Fakelákia, in Umschlägen, floss und fließt noch immer im griechischen Gesundheitssystem. Patienten bezahlen niedrige Krankenkassen-Beiträge, im Krankheitsfall aber verteilen sie Fakelákia mit Bargeld an die Krankenschwester, den Chirurgen, den Anästhesisten und andere Beteiligte. Ein Reibach für viele, ein Desaster für mittellose Patienten. "Es ist ein korruptes System, auf allen Ebenen - von den Ärzten über die Krankenhausdirektoren bis zu den Ministern", sagt Kardiologe Víchas. Aber die Krise wirke wie eine Katharsis - am Ende müsse sich das Gesundheitssystem ändern oder es werde zugrunde gehen.

Antibiotikum als Süßigkeit

Athinás Mutter hat mittlerweile einen Termin in der Kardiologie eines kooperierenden Krankenhauses bekommen. Die Behandlung ist umsonst, Giorgos Víchas selber hat das am Telefon versichert. "Es ist aber doch nichts Schlimmes?", fragt sie den Kardiologen, der die Mutter beruhigt.

Als sie geht, trägt sie auch eine kleine Palette Dosenmilch-Konserven unter dem Arm - Nahrung für ihr jüngstes Kind. Kindernahrung und Windeln werden hier auch gesammelt und an die Bedürftigsten verteilt, sagt Élena Bazakopoulou. Sie erinnert sich an ein Kleinkind, das vor Kurzem wegen einer Infektion mit einem Antibiotikum behandelt wurde. "Es trank das ekelhaft schmeckende Antibiotikum, als wäre es die leckerste Süßigkeit. Es hätte die ganze Flasche ausgetrunken, wenn man sie ihm gegeben hätte. Es hatte Hunger." Ihre Stimme bricht, als sie sich erinnert.

Patienten werden zu Freiwilligen

Sie hat selber zwei Töchter und ist eigentlich Wirtschaftswissenschaftlerin. Aber seit Juli arbeitet sie wöchentlich einige Stunden in der Praxis. "Es ist zwar hart, diese furchtbare Realität hier zu erleben, aber auch tröstend zu sehen, dass es diese Solidarität gibt, die sich selbst unter diesen schlimmen Umständen jeden Tag verstärkt", sagt sie. So werden viele Patienten zu freiwilligen Helfern.

Die freiwillige Mitarbeiterin Elena Bazakopoulou (Foto: Daphne Grathwohl/DW)
Elena Bazakopoulou in der gut sortierten ApothekeBild: DW/D. Grathwohl

Auch die Krebspatientin, die vier Monate lang um eine Chemotherapie kämpfte, fühlt sich jetzt so fit, dass sie vor wenigen Tagen Hilfe angeboten hat. Sie will die Praxisräume reinigen. Es sei bewegend, sagt Giorgos Víchas, "tagtäglich zu erleben, wie verzweifelte Menschen Hoffnung und Würde zurück gewinnen". Und das sei schließlich ja auch das Ziel der Sozialen Praxis in Ellinikón.