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Wie Belgorod unter ukrainischen Vergeltungsangriffen leidet

9. Januar 2024

Das russische Belgorod wird seit fast zwei Wochen täglich von der ukrainischen Armee beschossen und hat inzwischen Dutzende Tote und Verletzte zu beklagen. Was die Bewohner erzählen.

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Feuerwehrleute löschen ein bei einem Angriff auf Belgorod in Brand geratenes Auto
Feuerwehrleute löschen ein bei einem Angriff auf Belgorod in Brand geratenes AutoBild: Russia Emergency Situations Ministry via Telegram/AP/picture alliance

Russische Behörden haben die ersten 300 Einwohner von Belgorod in benachbarte Orte evakuiert, nachdem die Stadt wiederholt von der Ukraine beschossen wurde. Die Stadt mit ihren rund 350.000 Einwohnern an der russisch-ukrainischen Grenze wird seit rund zwei Wochen fast täglich Ziel ukrainischer Angriffe als Antwort auf verstärkte russische Einschläge in der Ukraine. 

Den bislang heftigsten Raketenbeschuss gab es am 30. Dezember 2023 auf das Stadtzentrum von Belgorod. Dabei wurden 25 Menschen getötet, darunter vier Kinder. Mehr als 100 weitere Personen wurden verletzt. Moskau unterstreicht, dass sich im Zentrum von Belgorod keine militärischen Objekte befunden hätten und dass es sich um einen gezielten Angriff auf die zivile Infrastruktur gehandelt habe. 

Zerstörungen in Belgorod Ende Dezember
Zerstörungen in Belgorod Ende DezemberBild: Pavel Kolyadin/TASS/dpa/picture alliance

Das ukrainische Militär dagegen soll nach Medienberichten inoffiziell erklärt haben, der Angriff habe zwar militärischen Einrichtungen Russlands gegolten, aber aufgrund eines "fatalen Fehlers" in der Arbeit des russischen Luftabwehrsystems seien Granatsplitter im Zentrum von Belgorod niedergegangen.

Die Bevölkerung wurde überrascht

Einen Tag zuvor, am 29. Dezember 2023, waren zehn Regionen der Ukraine einem flächendeckenden Raketenangriff aus Russland ausgesetzt. Dabei sollen nach Angaben der ukrainischen Behörden mehr als 40 Menschen getötet und mindestens 150 verletzt worden sein. Seit dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022 werden ukrainische Städte fast täglich mit Artillerie, Raketen und Drohnen angegriffen. 

Der Beschuss Belgorods durch die ukrainischen Armee sei für viele Menschen in der Stadt völlig überraschend gewesen, erzählt eine 24-jährige Bewohnerin der Deutschen Welle. Wir nennen sie Christina. Ihren richtigen Namen möchte sie lieber nicht nennen.

Ein beschädigtes Gebäude in Belgorod Ende Dezember
Ein beschädigtes Gebäude in Belgorod Ende DezemberBild: Pavel Kolyadin/ITAR-TASS/IMAGO

Vor dem Angriff am 30. Dezember 2023 seien höchstens die Außenbezirke von der Gebietshauptstadt des gleichnamigen Oblasts getroffen worden, erinnert sich Christina. Ihre Wohnung liegt im Zentrum der Stadt, trotzdem sei ihr Haus am 30. Dezember verschont geblieben - anders als das Nachbarhaus, das von vielen Granatsplittern getroffen worden sei.

Seitdem sei ihre Heimatstadt fast täglich aus der Ukraine beschossen worden, klagt die Belgoroderin. Obwohl Granaten und Granatsplitter in verschiedenen Teilen der Stadt eingeschlagen würden, seien Explosionen auch in ihrer Wohnung zu hören. In solchen Momenten verstecke sie sich zusammen mit ihrer Mutter und ihrer jüngeren Schwester im Badezimmer. Mehrmals sei die Familie auch in den Schutzkeller gegangen. "Ich selbst wollte aber nicht hingehen. Es ist besser, sofort zu sterben, als unter den Trümmern des Hauses zu liegen", sagt Christina.  

Ein zerstörtes Auto
Ein zerstörtes Auto Bild: Press Office Of The Belgorod Reg/picture alliance

Meistens bleibe sowieso keine Zeit, in den Keller zu gehen, weil die Sirenen erst nach dem Beschuss ertönten, kritisiert Christina. Auch habe die Stadt Probleme mit den Notunterkünften. Bürgerinnen und Bürger hätten Fotos von einigen Unterkünften in sozialen Medien gepostet, die auch nach dem Beschuss am 30. Dezember geschlossen geblieben seien. Die örtlichen Behörden hatte vor einem Jahr erklärt, dass sie 1700 Notunterkünfte vorbereitet hätten. 

"Trauernde Stille"

"Die Stadt wurde in eine trauernde Stille getaucht", beschreibt Christina die Stimmung in Belgorod. "Die Straßen sind nicht gerade überfüllt. Die drei größten Einkaufszentren funktionieren nicht mehr. Es fahren weniger öffentliche Verkehrsmittel als zuvor. Alle Veranstaltungen wurden abgesagt." Dagegen seien die Erste-Hilfe-Kurse gut besucht.

Der 20-jährige Student Roman Jefimow hilft als Freiwilliger den Opfern des ukrainischen Beschusses. Roman sortiert und liefert Hilfsgüter aus. Der Deutschen Welle erzählt er, dass er selbst sich selten auf die Straße traue. Trotzdem werde er sein Belgorod nicht verlassen, denn "man kann nirgendwo hin". Auch Christinas Familie bleibt in der Stadt, weil sie sich um ihre ältere Großmutter kümmern muss: "Sie geht nirgendwo mehr hin. Wir können sie nicht allein hierlassen."

Bewohner von Kiew räumen Anfang Januar nach einem russischen Angriff Schutt und Trümmer weg
Bewohner von Kiew räumen Anfang Januar nach einem russischen Angriff Schutt und Trümmer wegBild: Efrem Lukatsky/AP/picture alliance

Die meisten Bürgerinnen und Bürger von Belgorod verbrachten die Winterfeiertage zu Hause. Einige überlegten zwar, auszureisen. Die Zugtickets nach Moskau waren in den ersten Januartagen aber schnell ausverkauft. Kleinere Siedlungen als Fluchtorte rund um die Stadt gelten als sicher. "Aber wie viele Bombardierungen wird es noch geben?", fragt einer der Stadtbewohner im Gespräch mit der DW. 

In sozialen Netzwerken werden Gründe für den Beschuss der Stadt durch die Ukraine diskutiert. In einer Gruppe namens "In Belgorod" im russischen Netzwerk VKontakte fordern einige Nutzerinnen und Nutzer ein Ende der so genannten speziellen Militäroperation, wie der Krieg in Russland offiziell heißt. Andere dagegen kritisieren den Kreml dafür, dass er keine Staatstrauer nach dem Angriff am 30. Dezember ausgerufen habe. 

Forderungen nach Vergeltung

Häufiger findet man jedoch Aufrufe zur "Vergeltung", zur "Einnahme von Charkiw" und zum Beschuss ukrainischer Städte als Antwort. "Auf nach Kiew!" schreibt eine Nutzerin im Chat. "Das hat Belgorod nun als Antwort auf die sechs beschossenen ukrainischen Städte am 29. Dezember", widerspricht ihr ein anderer. 

Die Belgoroderin Christina erzählt, dass einer ihrer Bekannten ihr ein Bild von der Front geschickt habe. Zu sehen sei, wie das russische Militär Granaten mit den Worten "Für Viktoria Potrjasajewa" signiere (eine Mutter von zwei kleinen Kindern, die beim Beschuss von Belgorod getötet wurden - Anm. d. Red.). Christina stellt eine Verbitterung auf beiden Seiten fest, bei Russen und Ukrainern gleichermaßen: "Ich hatte wirklich nette, liberal gesinnte Freunde. Aber selbst unter ihnen gibt es welche, die am Ende sagen: Bombardiert sie doch, damit wir nicht beschossen werden. Das ist sehr schmerzhaft, bitter und verletzend", gesteht die junge Frau.