Corona führt zu mehr Genitalverstümmelungen
29. Oktober 2020Domtila Chesang stammt aus dem Bezirk West-Pokot im Nordwesten Kenias. Hier werden noch immer zahlreiche Mädchen und Frauen Opfer weiblicher Genitalverstümmelung (FGM). Domtila Chesang erlebte vor einigen Jahren, wie ihre Cousine beschnitten wurde. Das schreckliche Erlebnis machte sie nicht ängstlich, sondern entschlossen: Seitdem ist sie eine bekannte Aktivistin gegen die grausame Praxis, die auch in einigen anderen afrikanischen Ländern weiter existiert.
Lebenslanges Leiden
"Ich nutze meine Stimme und meinen Einfluss, um für die Rechte von Mädchen und gegen geschlechtsspezifische Gewalt zu kämpfen", sagt sie der DW. Anerkennung für ihr Engagement kam 2017 sogar aus hohem Hause: Die britische Königin verlieh ihr dafür im Buckingham-Palast einen Preis. Ihre Motivation, die Menschen über die Gefahren der Genitalverstümmlung aufzuklären und so Mädchen zu schützen, ist ungebrochen.
Doch die Corona-Pandemie macht diese Arbeit noch schwieriger als ohnehin schon: "Unsere Kampagnen sind nicht sehr effektiv. Wir können uns nicht frei bewegen, da Kenia einen Lockdown und eine nächtliche Ausgangssperre verhängt hat", sagt Chesang. "Der Fokus liegt auf COVID-19. Für diesen Kampf werden auch die meisten Gelder aufgewendet. Die Konsequenz ist: Mehr Mädchen bleiben sich selbst und den schädigenden kulturellen Praktiken in ihren Gemeinden überlassen."
In den Monaten des harten Lockdowns - April, Mai und Juni - seien in West-Pokot mehr als 500 Mädchen beschnitten worden, sagt Domtila. Ein riesiger Rückschritt: "Die Mädchen leiden ihr ganzes Leben körperlich und seelisch unter der Verstümmlung." Viele werden nach ihren Angaben zwischen 12 und 14 Jahren verheiratet und damit jeder Selbstbestimmung beraubt.
Schutzmechanismen brechen weg
In Westafrika ist die Situation seit Beginn der Corona-Pandemie ähnlich: "Solche Krisenzeiten sind für Mädchen und Frauen besonders gefährlich, sie verstärken die bestehenden Ungleichheiten", sagt Daniela Gierschmann, Westafrika-Expertin bei Medica Mondiale. Die Frauenorganisation betreibt Aufklärungsprojekte in Liberia, Sierra Leone und Elfenbeinküste.
"Die Schutzinstanzen funktionieren nicht mehr, es gibt einen deutlichen Anstieg an sexueller und häuslicher Gewalt. Teenager-Schwangerschaften und Beschneidungen von Mädchen nehmen zu", sagt sie im DW-Interview. Die FGM-Praxis hänge eng mit Kinderehen zusammen: "Sie wird von vielen Familien als Antwort auf ihre Not gesehen", so Gierschmann. Denn: Wenn die Armut steigt, können viele Eltern nicht mehr für alle Kinder sorgen und verheiraten daher ihre Töchter. Doch in manchen Kulturen muss eine Frau vor der Ehe beschnitten werden.
Diesen Trend sieht auch Asita Maria Scherrieb, Fachreferentin der Menschenrechtsorganisation Terre des Femmes."COVID-19 hat einen negativen Effekt auf die Menschenrechte. Das haben wir Westafrika gesehen. In den Schulen findet wegen Corona keine Aufklärung mehr statt, keiner hat ein Auge auf die Mädchen. Es fällt nicht auf, wenn sie fehlen", sagt Scherrieb im DW-Interview. Zudem ist der Zugang zu medizinischen Diensten vielerorts eingeschränkt, weil die Priorität auf Corona-Kranken liegt. Schutzeinrichtungen können aufgrund der Hygienebestimmungen weniger Plätze anbieten als sonst.
"FGM ist eine schwere Menschenrechtsverletzung und im internationalen Recht als Straftat anerkannt", so Scherrieb. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) existiert die grausame Praxis in 28 afrikanischen Ländern, 200 Millionen Mädchen und Frauen weltweit sind davon betroffen. Scherriebs Prognose: Durch die Folgen der Corona-Pandemie dürfte diese Zahl schon jetzt um 2 Millionen gewachsen sein.
Kleine Lichtblicke
In Westafrika gibt es aber trotz Pandemie kleine Lichtblicke: "Viele Frauen konnte ihre Erfahrungen aus der Ebola-Krise nutzen und haben für bedrohte Mädchen und Frauen dezentrale Telefon-Hotlines angeboten", sagt Daniela Gierschmann vom Medica Mondiale. Private Schutzmaßnahmen in Frauenhäusern seien ausgeweitet und außerschulische Bildungsangebote geschaffen worden. Diese Angebote reichten aber bei Weitem nicht aus.
Auch Domtila Chesang sorgt sich um die Zukunft der Mädchen und Frauen in Kenia. Es sei sehr unwahrscheinlich, dass ihre Heimat wie geplant die Weibliche Genitalverstümmelung bis 2022 beenden kann. Was für die Betroffenen ein lebenslanges Martyrium bedeutet: "Sie werden als Kinder zwangsverheiratet, von Bildung ausgeschlossen und sind von ihren Männern völlig abhängig. Sie haben keine Stimme, und bleiben ungehört."