Wie das Beethovenfest auf Nachhaltigkeit setzt
11. September 2023Überschwemmungen in Asien, ausgetrocknete Flüsse und Seen in Europa, Waldbrände in Australien oder Eisschmelze in Grönland: Die Natur ist durch den Klimawandel bedroht und damit auch der Mensch. Wie die Beziehung zwischen Mensch und Natur heute aussieht, damit beschäftigt sich unter dem Motto "Musik über Leben" auch das Bonner Beethovenfest. "Es geht darum, wie wir nachhaltig leben können und wie wir das in der Musik reflektieren, denn Natur ist der Raum, der das Leben erst möglich macht", sagt Steven Walter, Intendant des Beethovenfestes.
Verklärte Naturidylle
In Zeiten des technischen Fortschritts entdeckten die Romantiker vor 150 Jahren die Natur als Rückzugsort und drückten ihre Schönheit in Noten aus. Für einen Klavierabend beim Beethovenfest hat die Pianistin Danae Dörken naturverbundene Stücke aus dieser Epoche ausgewählt. Wenn der Komponist Robert Schumann in seinem Klavierzyklus "Waldszenen" Titel wählt wie "Vögel als Prophet" oder "einsame Blumen", dann spricht das für sich. "Da ist sehr genau beschrieben, was man in der Natur vorfindet und was das an Gefühlen auslöst", meint Danae Dörken.
Im Laufe der Industrialisierung haben die Menschen die Natur immer weiter ausgebeutet. Mensch und Natur scheinen längst nicht mehr eins; man habe sich entfremdet, sagt Beethovenfest-Intendant Walter. Genau diesen Aspekt hat der türkische Pianist Fazil Say in seinem Klavierstück "Kara Toprak" über die "schwarze Erde" aufgegriffen. Schwarze Erde ist als Nahrungsquelle für Pflanzen besonders gehaltvoll und kommt heute fast nur noch im Amazonas-Gebiet vor. "Fazil Say zeigt, dass wir die Natur sind, dass wir nach dem Tod die schwarze Erde werden", sagt Danae Dörken, die sein Stück gespielt hat. "Ich finde, das ist so ein schöner Vergleich, dass man weiß, wir sind eigentlich auch der Mutterboden, der die Natur nährt."
Menschliches Miteinander
Für Steven Walter ist Musik nicht losgelöst von gesellschaftlichen Ereignissen wie Krieg, Klimawandel oder dem Kampf um Gleichberechtigung. Sein musikalisches Programm soll auch zu den wichtigen Fragen der Zeit Stellung nehmen. Im letzten Jahr stand das Thema "Diversity" im Vordergrund, im nächsten Jahr soll es um Demokratie gehen. Zum Nachhaltigkeitsthema "Musik über Leben" in diesem Jahr gehört auch das menschliche Miteinander, etwa der Umgang mit Flüchtlingen.
Auf der griechischen Insel Lesbos und den umgebenden Inseln leben seit Jahren Tausende von Flüchtlingen in Lagern. Danae Dörken und ihre Schwester Kiveli haben auf Lesbos ein eigenes Musikfestival gegründet, um in der Heimat ihrer Mutter Flüchtlinge und Einwohner zusammenzubringen. Die Bootsflüchtlinge erzählen von traumatischen Erlebnissen bei ihrer Flucht über das Meer. "Da ist man dann mit dieser Situation des 'Überlebens' konfrontiert", sagt Danae Dörken. Denn das Motto des Beethovenfests "Musik über Leben" hat angesichts all der Katastrophen, die viele Menschen derzeit bewältigen müssen, auch eine Bedeutung im Sinne von "überleben". Auf Lesbos helfe Musik, dass sich Flüchtlinge und Bewohner auf Augenhöhe begegnen können, sagt Danae Dörken. "Das nimmt auf beiden Seiten die Angst; das Festival ist dazu die ideale Plattform."
Musik im Namen der UN-Nachhaltigkeitskonvention
Eins der Projekte beim Beethovenfest, das menschliches Miteinander, Nachhaltigkeit und Zukunftsvisionen vereint, nennt sich #bechange. Es geht darum, sich zu verändern, um die Zukunft nachhaltig zu gestalten. "Alles, was sich nicht verändern kann, was sich nicht transformieren kann, stirbt auf Dauer", meint Steven Walter. Das beträfe Lebewesen genauso wie Organisationen. "Im positiven Sinne geht es um die Frage, wie wir Zukunft alternativ denken, wie wir Utopien zeichnen können."
Hinter dem musikalischen Projekt #bechange-Projekt steht das Stegreif-Orchester. Das junge Ensemble beschreibt sich als Kollektiv aus 30 internationalen Musikerinnen und Musikern, das auf der Suche nach neuen Konzertformaten ist. Die Beteiligten arbeiten mit Choreographie und Improvisation auf Grundlage klassischer Werke, spielen im Stehen ohne Noten und haben keinen Dirigenten.
Für das Projekt haben sie sich zwei Jahre lang mit den 17 Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen auseinandergesetzt. Dazu gehören Ziele wie die Beseitigung von Armut und Hunger, hochwertige Bildung, Geschlechtergleichheit oder Maßnahmen zum Klimaschutz. "Das Orchester hat schon vor ein paar Jahren entschieden, ein Angebot für eine Chinatournee auszuschlagen, denn wir wollen nicht fliegen als Orchester", sagt Lorenz Blaumer, der künstlerische Leiter. Im Zuge des Projekts habe man, so ergänzt Produktionsleiter Immanuel de Gilde, zum Beispiel auch darauf geachtet, ob die Kostüme von nachhaltigen Firmen produziert werden.
Die "Change.Sinfonie"
Im Laufe der letzten zwei Jahre hat das Orchester in Workshops mit Schulen, Organisationen für Flüchtlinge und Sozialeinrichtungen gearbeitet und deren Anregungen musikalisch aufgegriffen. Das wollen sie auch in Zukunft tun, denn in Punkt 17 der UN-Agenda wird dazu aufgerufen, Partner zu suchen, um die Ziele gemeinsam zu erreichen.
In Bonn hat Stegreif mit dem Schülermanagement des Beethovenfestes zusammengearbeitet. Die Schüler haben sich unter anderem darum gekümmert, die Uraufführung der "Sinfonie of Change" in einer alten Fabrik möglich zu machen. Gleich am Eingang eine Videoleinwand, auf der Bilder im Zeitraffer schmelzende Gletscher und immer dichter besiedelte Gegenden zeigten.
Als Grundlage hat das Stegreif-Ensemble klassische Musik von fünf Komponistinnen aufgegriffen, darunter von Hildegard von Bingen, die im 12. Jahrhundert lebte. Sie war Äbtissin, Dichterin, Komponistin und ist bis heute als bedeutende Heilkundlerin bekannt. Bearbeitet wurden die Werke von fünf sogenannten "Rekomponistinnen" aus dem Ensemble, die sie szenisch zu einem abendfüllendem Spektakel zusammensetzten . "Da ging es darum, weibliche Stimmen zu stärken - was auch eins der UN Nachhaltigkeitsziele ist", sagt Lorenz Blaumer.
In der Fabrikhalle spielten die Musikerinnen und Musiker Werke aus dem Mittelalter bis hin zu jazzigen Improvisationen. Protagonisten wie Publikum bewegten sich frei im Raum; Pappkartons wurden als Trommeln an die Besucher weitergereicht. Zu hören war Musik, die nachdenklich macht, aber auch Lebensfreude ausdrückt. Die Leinwand zeigte am Ende des Konzerts Keimlinge, die aus der Erde wuchsen. Das Publikum applaudierte begeistert. Denn auch das gehört zur Nachhaltigkeit: die Freude am Leben und an der Musik.