Wie Deutschland in der Pflege wegschaut
28. Juli 2021Das Thema, das alle in Deutschland früher oder später betreffen könnte, über das aber gleichzeitig fast niemand redet, lässt sich auf eine einfache Frage und eine kurze Antwort reduzieren. Peter Müller, seit drei Jahren an den Rollstuhl gefesselt, sitzt zu Hause neben seiner an Parkinson erkrankten Ehefrau und muss auch gar nicht lange nachdenken, er antwortet wie aus der Pistole geschossen.
"Wie wäre das Leben ohne Zuzanna, ihre polnische Pflegerin?"
"Nicht denkbar, ohne sie geht es nicht."
Peter Müller heißt wie auch Zuzanna in Wahrheit anders, aber auch das gehört zu diesem heiklen Thema: Alle Beteiligten bitten um Anonymität, aus Angst, dass ihnen deswegen irgendwann Nachteile entstehen könnten. Was also tun, wenn man als alter Mensch pflegebedürftig ist, aber nicht ins Altersheim gehen will und keine Kinder da sind, die sich um einen kümmern können?
Win-win-Situation, wenn alles passt
Dem Ehepaar Müller ist klar, sie wollen so lange wie möglich zu Hause bleiben, vor einem halben Jahrhundert sind sie hier direkt nach der Hochzeit eingezogen. Seit drei Jahren teilen sich die Müllers deshalb ihr Eigenheim mit Zuzanna oder vertretungsweise einer anderen Pflegekraft.
Sitzt man mit den Dreien beim Kaffee zusammen, hat man das Gefühl, sie würden sich schon seit Jahrzehnten kennen, Zuzanna ist quasi Teil der Familie. Die polnische Pflegerin ist das, was viele in der Branche als "Perle" bezeichnen. Sie sagt: "Du merkst sofort, ob es in einer Familie passt oder nicht, das ist ein Bauchgefühl. Die Chemie muss stimmen, sonst funktioniert es nicht."
Zuzanna, die bei ihrer vorigen Station eine bettlägerige Frau in nur sieben Wochen wieder zum Laufen gebracht hat, schmeißt bei den Müllers den kompletten Haushalt. Um 8 Uhr morgens weckt sie Frau Müller, geht mit ihr unter die Dusche, um 8.45 Uhr bringt sie Peter Müller seinen Kaffee ans Bett, danach Waschen, Kochen, Saubermachen.
Zwischendurch wirbelt sie auch schon mal Frau Müller zu Kölner Karnevalsmusik durch die Luft. Aber jede Stunde ist genau getaktet, Zuzanna als Organisationsweltmeisterin plant den kompletten Tagesablauf des Ehepaares. Auch wann der ambulante Pflegedienst für die Rehabilitation vorbeikommt, hat sie im Kopf.
Was gehört, neben dem Talent für Organisation, noch zu einer perfekten Pflegekraft? "Man muss mit Herzblut dabei sein und auch die Sprache beherrschen", sagt sie. Zuzanna ist eine sogenannte 24-Stunden-Pflegerin. Die Müllers haben das Kellergeschoss freiräumen lassen, dort ist Zuzannas Reich.
Ihr Mann arbeitet auch als Quasi-Vollzeitpfleger nur einen Katzensprung entfernt. Die Kinder sind schon aus dem Haus, alle paar Monate geht es zurück zum Bauernhof in ihre polnische Heimat.
Milliardenmarkt Pflege lockt auch schwarze Schafe an
Der Deal, der in Deutschland seit Jahrzehnten gilt, geht so: die pflegebedürftigen Deutschen bezahlen den ausländischen Hilfskräften ein Gehalt, das, gemessen an der Arbeitszeit, für deutsche Verhältnisse eher niedrig ist, in Polen, Rumänien oder Bulgarien aber sehr viel wert ist. 1600 Euro netto im Durchschnitt. Häufig "schwarz", also ohne offizielle Rechnung.
Die Hilfe durch eine ausländische Pflegekraft kann sehr gut funktionieren und eine Win-Win-Situation für beide Seiten sein, ab und an geht es aber auch mächtig in die Hose.
Die Pflegebranche ist mittlerweile ein Milliardenmarkt und Geschichten über schwarze Schafe hört man immer häufiger. Vermittlungsagenturen, die sich bereichern. Familien, welche die Pflegekräfte wie moderne Sklaven halten und ausbeuten. Und Pflegekräfte, die etwas mitgehen lassen oder mitten in der Nacht abhauen.
Auch den Müllers ist das schon passiert. Peter Müller erinnert sich, wie seine Frau einmal die ganze Nacht nach ihrer Pflegekraft rief, die sich aber längst aus dem Staub gemacht hatte. "Deutschland muss aufpassen, dass nicht immer mehr Ungelernte kommen und schwarz arbeiten, die von der Pflege gar keine Ahnung haben", sagt er.
Großer Knall durch das Urteil des Bundesarbeitsgerichtes
In der Pflege ist es hierzulande wie bei der Infrastruktur, der Digitalisierung oder der Bildung. Deutschland wurschtelt sich so durch, lebt von der Substanz. Niemand fühlt sich wirklich zuständig, keiner wagt eine überfällige Reform, die für die nächsten Jahrzehnte trägt.
Warum auch, das System funktioniert ja einigermaßen. Obwohl jeder weiß, dass es so über kurz oder lang so nicht mehr weitergehen kann. Denn Deutschland hat jetzt schon über vier Millionen Pflegebedürftige, Tendenz steigend. Bis dann irgendwann der große Knall kommt.
Die Pflegebranche wird aufgeschreckt durch ein Urteil des Bundesarbeitsgerichtes vor einem Monat: Demnach gilt der gesetzliche Mindestlohn auch für Pflegekräfte aus dem Ausland und für die Bereitschaftszeiten in der 24-Stunden-Pflege.
Heißt konkret: Familie Müller müsste Zuzanna auch in der Nacht bezahlen, für den seltenen Fall, dass sie auch dann Hilfe brauchen. Peter Müller sagt: "Das ist nicht finanzierbar für uns. Dann müssen wir unser Haus verkaufen."
Pflegevermittler oftmals auch 24-Stunden-Kräfte
Dass Zuzanna bei den Müllers arbeitet, hat Angela Meyer eingefädelt. Auch sie heißt eigentlich anders, aber Anonymität ist wichtig in einer Branche, in der ein offenes Wort in den Medien gerade für die Vermittler geschäftsschädigend sein kann. Dazu passt, dass sie ein echter Geheimtipp ist: Im Internet sucht man Meyers Agentur vergeblich.
Die mittlerweile 100 Kunden und Hunderte Pflegekräfte sind alle über Mund-zu-Mund-Propaganda bei ihr gelandet. Meyer ist eines dieser vielen kleinen Rädchen in Deutschland, ohne die das ganz große Rad der Pflege nicht laufen würde. Wie auch die Pflegeheime und die ambulanten Pflegedienste.
Wenn man so will, ist sie auch eine 24-Stunden-Kraft, denn für die Pflegebedürftigen und die Hilfskräfte ist sie Tag und Nacht und auch am Wochenende erreichbar. Angela Meyer sagt von sich: "Ich bin eine Frontkämpferin und habe keine Bürozeiten."
Von Hause aus Kinderkrankenschwester, vermittelt sie seit acht Jahren Pflegekräfte aus Polen, Rumänien, Bulgarien oder der Ukraine an hilfsbedürftige Menschen in ganz Deutschland. Zu ihrem neuen Job kam sie durch ein persönliches Schicksal, ihre Mutter wurde von einem Tag zum anderen ein Pflegefall. "Irgendwann habe ich mir gesagt, das kann ich eigentlich viel besser als die Agenturen."
Ausbeutung auf der einen, fehlende Eignung auf der anderen Seite
Angela Meyer kennt beide dunklen Seiten der Pflegemedaille, die der Ausbeutung und die von vermeintlichen Pflegekräften, die ihrer Aufgabe von vorne bis hinten nicht gewachsen sind. "15 Prozent sind für diesen Beruf gar nicht geeignet", sagt sie, und hat dafür auch mittlerweile ein feines Gespür: "Wenn die erste Frage im persönlichen Gespräch lautet, was kann ich bei Euch verdienen, sage ich direkt 'Auf Wiedersehen.'"
Für Meyer zählen Berufserfahrung und Deutschkenntnisse. Auf der anderen Seite hat sie einen medizinischen Hintergrund und kennt die Leistungen der Krankenkassen, wenn es um die Hilfsmittel für die Pflegebedürftigen geht. Pflegekräfte vermittelt sie nur weiter, wenn diese eine Versicherungskarte haben, ansonsten schließt Meyer für sie eine kostengünstige Privatversicherung ab. Wenn eine Anstellung so gar nicht funktioniert, wickelt sie diese im stillen Kämmerlein ab.
Wie sieht eine Pflegevermittlerin wie sie das Urteil des Bundesarbeitsgerichtes zur 24-Stunden-Pflege? "Nur die wenigsten arbeiten wirklich 24 Stunden und für die, die das wirklich tun, müssten wir einen Drei-Schicht-Betrieb einführen", sagt Meyer, "so ein Modell wird nie im Leben funktionieren und ist auch nicht finanzierbar. Abgesehen davon sind die Deutschen gar nicht bereit, diese Jobs zu machen."
Die Pflegekräfte, mit denen sie gesprochen hat, seien wütend über das Urteil, weil sie fürchteten, bald auf der Straße zu stehen. "Sie brauchen die Arbeit, sie halten ihre Familien mit dem Geld zu Hause am Leben, aber wenn die Preise so in die Höhe getrieben werden, werden die Patienten das nicht mehr zahlen können", sagt Angela Meyer, "und die Pflegerinnen und Pfleger werden dann nicht mehr kommen. Niemand soll ausgebeutet werden, aber dieses Urteil ist ein Bärendienst."
In der Pflege herrscht "Klima der Angst"
Der Mann, den alle nur den "Pflege-Papst" nennen, weiß gar nicht mehr so richtig, wie er zu dem Namen gekommen ist. Der Buchautor Claus Fussek, dessen Leib- und Magenthema seit mehr als 30 Jahren die Pflege ist, hat aber einen Verdacht: "Ich spreche die unbequemen Wahrheiten aus, die eigentlich jeder kennt und jeder weiß. Dabei ist das nicht besonders mutig, die Dinge zu benennen, sondern selbstverständlich."
Im Februar ist Fusseks Mutter gestorben, zehn Jahre lang hatte er bei der Pflege auch Unterstützung von Frauen aus Rumänien. Jeden Tag bekommt er unzählige Mails, Anrufe und Briefe von verzweifelten Angehörigen und Pflegekräften. Fussek ist der Kronzeuge eines Systems, das einem Schweigekartell gleicht.
"Wir haben in der Pflege ein Klima der Angst. 90 Prozent der Pflegekräfte und 100 Prozent der Angehörigen bitten mich um Anonymität, weil sie Angst haben, dass durch ihre berechtigte Kritik die Pflege noch schlechter wird", sagt er. "Das Ausmaß des Scheiterns ist inzwischen so groß geworden, das wir in Deutschland mittlerweile kaum noch wissen, wo wir ansetzen sollen."
Pflege-Problem wird jeden Tag größer
Gerade hat ihm eine 80-Jährige geschrieben, die seit Jahren ihren schwer dementen Ehemann pflegt, mit dem sie keine gute Ehe hatte. Dann gibt es die Frauen, die ihn anrufen und sagen, sie hätten seit acht Wochen nicht geschlafen. Oder auch die Pflegekräfte, die ihm erzählen, ihre Eltern würden jetzt in einem Heim schlecht behandelt werden.
"Ich sage dann immer: 'Aber ihr wisst doch über das System Bescheid, warum ruft ihr mich an?' Und die Pflegekräfte sagen mir dann: 'Ja, Herr Fussek, aber jetzt stehen wir auf der anderen Seite, der der Angehörigen. Wir alle kennen solche Geschichten, aber wir schauen weg, wir blenden es aus, wir wollen sie nicht hören.'"
Es ist paradox, quasi jeder hierzulande wird irgendwann mit dem Thema Pflege konfrontiert, aber das Motto lautet bis heute: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Dabei wird das Problem in Deutschland mit jedem Tag größer. Schätzungen zufolge braucht das Land allein in der ambulanten und stationären Pflege im Jahr 2035 eine halbe Million Pflegekräfte, etwa 120.000 mehr als jetzt.
Und das wird nur mit Pflegekräften aus Mittel- und Osteuropa gehen. Fussek, der auch selbstkritisch einräumt, seine eigenen Pflegekräfte in gewisser Weise ausgebeutet zu haben, fordert: "Wir müssen diese Menschen, die hier, ein, zwei, drei Monate am Stück arbeiten, gut behandeln. Es gibt welche, die haben riesige Probleme und niemanden, mit dem sie sprechen können. Wir müssen sie unterstützen und dafür sorgen, dass sie nicht alleine sind."
"Pflege ist die Schicksalsfrage der Gesellschaft"
Das Urteil des Bundesarbeitsgerichtes? In der Sache richtig, sagt der Pflege-Experte, da gebe es keine zwei Meinungen. Er befürchtet allerdings, dass der Anteil der Pflegekräfte, die "schwarz" arbeiten, von 80 Prozent jetzt noch weiter in die Höhe schießen wird.
"Wenn wir das konsequent umsetzen, bedeutet das monatliche Pflegekosten von bis zu 10.000 Euro, drei bis vier Frauen pro Familie plus Häuser mit drei, vier Zimmern für die Pflegekräfte. Das ist natürlich fernab jeglicher Realität."
Die Pflege ist also ein Thema, das Deutschland besser heute als morgen anpacken muss. Wenn erst einmal die Baby-Boomer, die geburtenstarken Jahrgänge von 1955 bis 1969, pflegebedürftig sind, droht das System endgültig zu kollabieren. "Wir müssen die Pflege aus Steuern und Beiträgen finanzieren, damit sie bezahlbar bleibt, das muss in die Köpfe der Gesellschaft", sagt Claus Fussek.
Und wenn auch die nächsten Jahre zu wenig passiert, wenn das Thema erwartungsgemäß im Bundestagswahlkampf und danach untergeht, was dann? Fussek hat eine drastische Antwort: "Die Pflege ist die Schicksalsfrage der Gesellschaft. Wir müssen sonst bald ernsthaft über aktive Formen der Sterbehilfe reden, weil niemand mehr da ist, der pflegt."