Der Nagelbombenanschlag im Fokus der Kultur
23. Februar 2016Stahlnägel fallen in Zeitlupe herab, begleitet von sphärischen Klängen. Beim Aufprall auf dem Betonboden stieben sie mit metallischem Klirren auseinander. Die Kamera fokussiert die Nägel mal scharf, mal verschwommen. Mit solchen Bildern inszeniert Regisseur Andreas Maus ein Spiel mit der Wahrnehmung - ein Kunstgriff, der auch zeigen soll: Was nicht sein kann, darf nicht sein. In Maus' Dokumentarfilm "Der Kuaför aus der Keupstraße" erscheint die Nagelsequenz mehrfach, wie ein Flashback nach einem Horrortrip.
Der Film erinnert an den Nagelbombenanschlag in der Kölner Keupstrasse am 9. Juni 2004, bei dem 22 Menschen verletzt wurden, vier davon schwer. Sieben Jahre dauerte es, bis die Schuldigen feststanden: Terroristen des rechtsextremen "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU). Der damalige Bundesinnenminister Otto Schily hatte einen Terrorakt ausgeschlossen und die Täter "im kriminellen Milieu" des hauptsächlich von Türken bewohnten Viertels verortet. Eine fatale Fehleinschätzung, die Opfer zu Tatverdächtigen machte und das Vertrauen in den Rechtsstaat zerstörte - blamabel für Polizei wie Politiker.
Dokumentation mit Kunstgriff
Während sich die juristische Aufarbeitung im Münchner NSU-Prozess wie ein Kaugummi hinzieht, läuft in den Kinos Maus' Film an - eine Mischung aus Reportage, Interviews und eben solchen Kunstbildern. Vernehmungen hat Maus von Schauspielern nachsprechen lassen. Originalprotokolle aus den Ermittlungsakten dienten als Quelle. Maus ergreift die Perspektive der Anwohner und lässt sie erzählen, was sie durchgemacht haben. Im Mittelpunkt steht ein türkischer Frisör, vor dessen Salon die Bombe explodierte. Ein Konditor tritt auf, die Inhaberin eines Geschäfts für Hochzeitsbedarf, ein Juwelier und ein CD-Händler. "Die ganze Strasse stand unter Verdacht", sagt Maus der Deutschen Welle, "unglaublich, wie die Polizei versucht hat, diese Menschen in eine bestimmte Ecke zu drängen."
Das änderte sich erst 2011, als der rechtsterroristische NSU aufflog und ein Bekennervideo zu dem Anschlag entdeckt wurde. Es wirkte wie eine Befreiung für die Bewohner. Zum zehnten Jahrestag des Attentats 2014 kam Bundespräsident Joachim Gauck im Frisörsalon in der Keupstrasse vorbei. Auch das zeigt Maus in seinem Dokumentarfilm - den NSU-Prozess und die Hauptangeklagte Beate Zschäpe hingegen nicht.
Ein politischer Krimi
Eine ganz andere Kunstform hat Wolfgang Schorlau gewählt, um den NSU-Skandal in Szene zu setzen: In seinem politischen Krimi "Die schützende Hand" lässt auch er die Sicherheitsbehörden nicht gegen die Täter, sondern gegen das Umfeld der Opfer der NSU-Mordserie ermitteln. Akten werden geschreddert, der Verfassungsschutz hat seine Finger im Spiel: "Was, wenn das kein bloßes Behördenversagen ist? Wer hält seine schützende Hand über die Mörder?", fragt Schorlaus Roman. "Die schützende Hand" trägt dokumentarische Züge. Die verwendeten Fakten – Zitate aus Akten und reales Fotomaterial – hat der Autor sorgfältig recherchiert und dann zur fiktionalen Erzählung verwoben. "Es sind im NSU-Komplex so viele Dinge geschehen, die völlig unglaubwürdig wären, wenn sie fiktional daherkämen", sagt Schorlau der Deutschen Welle, "deshalb musste ich glaubhaft machen, dass sie sich tatsächlich so abgespielt hat."
Den deutschen Behörden wirft der Autor eine "Desinformation der Öffentlichkeit" vor. Falschaussagen seien verbreitet, Fakten umgebogen, Informationen unter den Teppich gekehrt worden. Neben der offiziellen Erzählung, wie sie aus der Klageschrift im Münchener NSU-Prozess hervorgehe, gebe es aber eine zweite Ebene voller offener Fragen. "Das empört mich einerseits", sagt der Autor, "fasziniert mich aber zugleich." Vielen seiner Leser geht es vermutlich ähnlich: "Die schützende Hand", erschienen bei kiwi, hat sich binnen weniger Wochen 200.000 mal verkauft. Die im Text enthaltenen Quellenangaben sind für einen Krimi zwar ungewöhnlich, sie erhöhen aber die Glaubwürdigkeit des Autors. Es ist Schorlaus achter Kriminalroman um den schwäbischen Ermittler Georg Dengler. "In meinen Büchern versuche ich herauszufinden", sagt Schorlau, "wie viel Realismus Literatur verträgt". Der Autor, Jahrgang 1951, lebt in Stuttgart. Mit knapp 50 Jahren gab er den Geschäftsführerposten einer Software-Firma auf, um seinen ersten Krimi zu schreiben. 2006 wurde Wolfgang Schorlau mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet.
Die Lücke in der Gesellschaft
Nur einen Steinwurf vom Anschlagsort in der Keupstrasse entfernt, hat das Schauspiel Köln sein Ausweichquartier aufgeschlagen. Seit zwei Jahren führen sie hier Nuran David Calis' Theaterstück "Die Lücke" auf, am 1. März 2016 zum 50. Mal. Auch "Die Lücke" gibt den Opfern eine Stimme. Der Autor, Regisseur und Filmemacher stellt sogar Anwohner und Geschäftsleute zusammen mit Schauspielern auf die Bühne. Zur Darstellung der Geschehnisse reichen wenige Bilder von der zerstörten Keupstrasse und aus einem Überwachungsvideo. Darauf schiebt einer der beiden Bombenleger sein präpariertes Fahrrad an den Läden vorbei. Fakten, Protokollauszüge und Dialoge werden vorgetragen. Calis' Botschaft: Die Nagelbombe vertiefte den Graben zwischen türkischer Parallelwelt und deutscher Mehrheitsgesellschaft. Ermittlungspannen gerinnen zu institutionellem Rassismus.
In Dresden, das derzeit mit fremdenfeindlichen Pegida-Demonstrationen von sich reden macht, inszeniert das Theater "Mein deutsches Land" von Thomas Freyer, die NSU-Chronik als eine Art Langzeitkrimi. In Münster bringt das dortige Theater "Auch Deutsche unter den Opfern" von Tugsal Moğuls, und zwar als Parforceritt durch die Faktenflut und die haarsträubenden Ungereimtheiten des NSU-Komplexes.
Der NSU - Stoff fürs Fernsehen
Noch während der im Mai 2013 gestartete Prozess vor dem Oberlandeslandgericht München andauert, bei dem sich Beate Zschäpe als Überlebende des NSU-Trios verantworten muss, flimmerte soeben das erste Doku-Drama über die Angeklagte und die ihr zur Last gelegten Verbrechen über die deutschen Fernsehbildschirme. "Letzte Ausfahrt Gera - Acht Stunden mit Beate Zschäpe" hat die Ereignisse zum Filmstoff gemacht. Knapp 2,5 Millionen Zuschauer sahen die ZDF-Produktion, in der es viele fiktionale Spielszenen gibt, die sich an authentische Quellen halten. Es wird nicht der letzte Fernsehfilm zu diesem Thema sein - bei der ARD ist ein Dreiteiler in Arbeit.