1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Wie junge Latinos über Deutschland denken

Anne Herrberg31. Dezember 2012

Oktoberfest, Fachwerk und Lederhosen - so wird Deutschland in Südamerika für Touristen präsentiert. Doch was interessiert Jugendliche dort eigentlich an der Bundesrepublik?

https://p.dw.com/p/175Qb
Ein paar in Dirndl und Lederhosen auf der Wiesn in Argentinien (Foto: DW/Anne Herrberg)
Bild: DW/A. Herrberg

Eine Idylle aus Fachwerk, spitzen Giebeln und Hängegeranien, gelegen zwischen sanften Hügeln und dichtem Mischwald. Die Wirtshäuser werben mit selbstgebrautem Bier und Eisbein, die Bäckereien mit Stollen und Lebkuchen, auf dem Dorfplatz steht der Maibaum, und die Volkstanzgruppe trainiert in Dirndl und Lederhosen für den nächsten Auftritt. "Disney-Deutschland", so nennt Maradona die Szenerie in Villa General Belgrano in der zentralargentinischen Provinz Córdoba. Denn mit seiner Heimat habe diese Kleinstadt, die einst von deutschen Einwanderern gründet wurde, wenig zu tun.

Der 18-jährige Maradona aus Berlin war Anfang Dezember zum ersten Mal in dem Land, dem er seinen Vornamen verdankt: Sein Vater, ein Bürgerkriegsflüchtling aus dem Libanon, war begeisterter Fan des argentinischen Fußballgottes. Und Maradona sieht seinem Namensvetter sogar ein bisschen ähnlich: schwarze Löckchen, klein, aber ein Muskelpaket. Statt Fußball interessiert er sich aber für Breakdance und hat schon mehrere Wettbewerbe gewonnen. Als Ehrengast haben ihn die Pasch-Schulen Südamerikas zu ihrem Sommercamp in Villa General Belgrano eingeladen. Pasch heißt "Partner: Schulen der Zukunft" und ist ein 2008 vom Auswärtigen Amt ins Leben gerufenes Programm, um Schulen zu vernetzen, an denen die deutsche Sprache gelehrt wird. Rund 1500 sind das weltweit. 

Groß, blond, blauäugig

"Ich dachte immer, alle Deutschen sehen aus wie Edualdo", sagt die 14-jährige Sabine, als sie Maradona im Camp kennenlernt. Sie zeigt auf ihren Nebensitzer Edualdo: "Groß, blond und blaue Augen". Sabine und Edualdo kommen aus São Paolo, Brasilien. In der Schule dort lernen sie Deutsch, die Sprache ihrer Vorfahren, die wie viele Deutsche um 1800 herum nach Südamerika ausgewandert  sind. Die Urenkel kennen Deutschland selbst nicht, nur das überlieferte Brauchtum, das in deutschen Kolonien oft heute noch gepflegt wird, und ein bisschen Geschichte des Zweiten Weltkrieges.

Schuhplattler trifft Breakdance beim Pasch-Sommercamp 2012 (Foto: DW/Anne Herrberg)
Schuhplattler trifft Breakdance beim Pasch-Sommercamp 2012Bild: DW/A. Herrberg

"Das Deutschlandbild, das heute an den Schulen vermittelt wird, ist oft etwas angestaubt und hat nichts mit der aktuellen Lebenswirklichkeit in der Bundesrepublik zu tun", weiß die Berliner Pädagogin Ines Patzig-Bartsch, die 21 Pasch-Schulen in Argentinien, Paraguay, Uruguay und Chile betreut. Oft sei der Unterricht trocken und viel zu theoretisch, ein wirklicher Austausch mit Deutschland fand lange nicht statt. 

Klischees auf den Kopf stellen

So kam Patzig-Bartsch 2008 die Idee, interkulturelle Sommercamps zu organisieren - bei denen Jugendliche zwischen elf und 17 Jahren nicht nur ihr Deutsch verbessern sollen, sondern auch lernen: Deutschland hat viel mehr zu bieten als Bockbier und Sauerkraut. In Workshops und Performances  werden Klischees auf den Kopf gestellt und neue Facetten gezeigt. Dabei haben die wenigsten Schüler und Schülerinnen deutsche Wurzeln - und ganz unterschiedliche Motivationen, warum sie die Sprache lernen. Auf Nachfrage hörte man: "Sonst hätte ich chinesisch lernen müssen", "Ich finde, es klingt schön", aber auch "Ich will Ingenieur werden und an einer deutschen Universität studieren".

Im ersten Jahr  des Camps gingen die Teilnehmer auf historische Spurensuche in Villa General Belgrano, das in Argentinien im Verdacht steht, einst Unterschlupf für Deutsche mit NS-Vergangenheit zu sein. Dabei ergaben die Nachforschungen der Schüler, dass sich dort mindestens acht verschiedene Migrationsströmungen vermischen und nur die wenigsten etwas mit der NS-Zeit zu tun haben. Heute sind Oktoberfest und Lederhosen-Romantik dort vor allem Teil einer gut funktionierenden Vermarktungsstrategie, die Touristen aus aller Welt anlockt. 

Nachgebauter Eingang eines Oktoberfest-Geländes (Foto: DW/Anne Herrberg)
Schnitzwerk, Bierfass, Oktoberfest - so wird Deutschland in Südamerika präsentiertBild: DW/A. Herrberg

Sabine und Edualdo finden das jedoch eher langweilig. Viel spannender finden sie, was über deutsche Kultur im diesjährigen Sommercamp vermittelt wird. Ines Patzig-Bartsch hat dazu Künstler eingeladen, deren Lebensläufe zeigen, dass Deutschland, genau wie die südamerikanischen Länder, selbst eine Einwanderungsgesellschaft ist, in deren Kultur sich unterschiedlichste Einflüsse vermischen. Schuhplattler trifft auf Breakdancer oder experimentelle Klangkunst, Maibaum und Fachwerkfassaden werden Street-Art Attacken unterzogen, und im argentinischen Bergidyll wird eine Berliner Kulisse aus Pappe aufgebaut.

Multikulti aus Berlin

Überhaupt Berlin. "Das ist derzeit die Kulturmetropole Europas", sagt der 15-jährige Elias aus dem nordargentinischen Misiones: "Da will ich hin, weil ich DJ werden möchte." Und sein neuer Kumpel Angel aus Mexiko  findet es toll, "dass Hip Hop auch in Deutschland zwar US-amerikanische Einflüsse hat, aber seinen ganz eigenen Style entwickelt hat, wie in Mexiko auch."

Elias und Angel nehmen teil am Beatbox-Workshop, in deutscher und spanischer Sprache haben sie dazu einen Rap geschrieben: "Wo kommst du her? Wo gehörst du hin?" heißt nicht nur der Refrain des Songs, sondern auch das Motto des Camps 2012 insgesamt. Ergebnis aller Workshops ist ein gemeinsamer Abschlussfilm - die Liebesgeschichte eines arabischstämmigen Beatboxers aus Berlin und einem deutschstämmigen Dirndlmädchen aus Argentinien. Ein Clash der Kulturen, der schließlich aber zum Happy End führt, zur Fusion des "alten" und des "neuen" Deutschlandbildes. Breakdancer Maradona Akkouch stand natürlich ein bisschen Pate beim Entwurf der männlichen Hauptfigur.

Maradona aus Berlin-Neukölln (Foto: DW/Anne Herrberg)
“Berlin ist meine Heimat”: Maradona aus NeuköllnBild: DW/A. Herrberg

Berliner, aber kein Deutscher

Der 18-Jährige wurde in Berlin geboren, als Kind libanesischer Bürgerkriegsflüchtlinge, die nur eine Duldung in der Bundesrepublik hatten. Erst ab dem Jahr 2000 wird das Geburtsortprinzip neben der Abstammung als Grund für eine Einbürgerung in Deutschland miteinbezogen. Auf dem Pasch-Camp 2012 in Argentinien ist Maradona Repräsentant Deutschlands, einreisen musste er jedoch mit seinem libanesischen Pass. "Es ist schon verrückt: Ich bin Berliner, das ist meine Heimat, aber Deutscher darf ich nicht sein", sagt Maradona und blickt gedankenverloren in den Mischwald der argentinischen Provinz.