1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
KonflikteUkraine

Ukraine: Wie russische Drohnen Jagd auf Zivilisten machen

Nina Werkhäuser | Esther Felden | Julett Pineda | Igor Burdyga
27. August 2024

Im Krieg gegen die Ukraine setzt Russland Drohnen auch gegen Zivilisten ein. Eine DW-Investigation zeigt, wie eine Kleinstadt nahe der Front seit Monaten von Drohnenpiloten terrorisiert wird.

https://p.dw.com/p/4jtae
Eine mit einer Granate bestückte FPV-Drohne im Flug.
Tödliche Waffe: Eine FPV-Drohne, die mit einer Granate bestückt istBild: Alexander Reka/ITAR-TASS/IMAGO

Es ist das Geräusch von fliegenden Drohnen, das Wolodymyr Kindrat und seiner Frau Ljubow nicht mehr aus dem Kopf geht. Am 7. Februar dieses Jahres hörten sie das bedrohliche Sirren stundenlang. Sie hatten sich schon fast daran gewöhnt, als zwei mit Sprengstoff beladene Drohnen plötzlich ihr Haus angriffen.

"Ich sah, wie die Drohnen unsere Garage trafen", erzählt Wolodymyr Kindrat. Das Garagentor und das Auto der Familie wurden bei dem Angriff schwer beschädigt. "Es war, als ob die Soldaten ein Computerspiel spielen", beschreibt Ljubow den verstörenden Angriff. "Nur eben im echten Leben", fällt Wolodymyr ihr ins Wort. "Und an lebenden Zielen", ergänzt sie.

Drohnen-Angriffe auf Zivilisten

Nach diesem Schock flüchteten die Kindrats mit ihrer erwachsenen Tochter aus Beryslaw, ihrer Heimatstadt im Süden der Ukraine.

Zwischen September 2023 und Juli 2024 wurde Beryslaw von einer beispiellosen Serie russischer Drohnenangriffe getroffen. Die ukrainischen Behörden dokumentierten in diesem Zeitraum mehr als 120 Drohnenangriffe, bei denen 16 Menschen getötet und mehr als 130 verletzt wurden - laut Berichten alle Zivilisten.

Wolodymyr und Ljubow Kindrat
Nach einem Drohnenangriff ließen Wolodymyr und Ljubow Kindrat ihr Haus in Beryslaw zurück und flüchteten in ein Dorf in der Region TscherkassyBild: DW

Über mehrere Monate hat das Investigativteam der DW eine Fülle von Berichten und Open-Source-Informationen zu den Drohnenangriffen ausgewertet. Zwei Nichtregierungsorganisationen unterstützten die DW bei der Analyse dieser Daten: Das Eyes-on-Russia-Projekt des Centre for Information Resilience und das Ukraine-Archiv von Mnemonic.

In der Stadt selbst konnte unser Team nicht recherchieren. Wegen der permanenten Bedrohung hat die ukrainische Polizei den Zugang gesperrt. Die Analyse der Daten sowie Interviews mit Augenzeugen und Experten legen aber nahe, dass russische Soldaten Drohnen systematisch gegen Zivilisten eingesetzt haben könnten.

Die meisten Einwohner sind geflüchtet

Beryslaw liegt am nördlichen Ufer des Dnipro in der Nähe der Stadt Cherson. Kurz nach ihrer Großinvasion in die Ukraine im Februar 2022 besetzten russische Truppen die Stadt Cherson und die umliegenden Ortschaften, so auch Beryslaw. Im Herbst 2022 eroberte die ukrainische Armee das Gebiet zurück. Die russischen Truppen mussten sich auf die gegenüberliegende Seite des Dnipro zurückziehen.

Vom anderen Flussufer aus beschießen russische Streitkräfte Beryslaw seitdem massiv mit Artillerie, Lenkbomben und Drohnen. Große Teile der Stadt wurden zerstört, die meisten der ehemals 11.000 Einwohner flohen. Zurück blieben überwiegend ältere Menschen.

Karte der Region Beryslaw
Beryslaw liegt am Ufer des Dnipro - auf der anderen Seite des Flusses stehen russische TruppenBild: DW

FPV-Drohnen als Waffe

Spätestens seit dem Herbst 2023 stieg die Zahl der Drohnenangriffe auf Beryslaw stark an. Zum Einsatz kamen dabei vor allem FPV-Drohnen (First Person View), die mit Sprengstoff beladen waren.

FPV-Drohnen, die ursprünglich überwiegend von Hobbypiloten genutzt wurden, sind mit einer Videokamera ausgestattet. Mithilfe einer speziellen Brille oder auf einem Monitor verfolgt der Pilot ihren Flug in Echtzeit. So kann er das Angriffsziel aus der Nähe beobachten und mit hoher Genauigkeit ansteuern.

Im Jahr 2023 nahm die Zahl der an der Front eingesetzten FPV-Drohnen auf beiden Seiten massiv zu. "Zu jeder Zeit operieren wahrscheinlich Zehntausende FPV-Drohnen im Himmel über der Ukraine", erläutert Samuel Bendett, Mitglied des Russland-Studienprogramms am Center for Naval Analyses, einem US-amerikanischen Thinktank

Den Sprengstoff kann der Drohnenpilot entweder abwerfen oder die Drohne mitsamt der Sprengladung in ein Ziel steuern, wo sie explodiert.

Von Drohnen gejagt

Auch Jewhen geriet ins Visier einer russischen Drohne. Seinen Nachnamen will er nicht öffentlich machen. Es war im Januar, als der Mitarbeiter der Hilfsorganisation World Central Kitchen Lebensmittel nach Beryslaw brachte. Auf dem Rückweg aus der Stadt sei sein Wagen von einer Drohne verfolgt worden. "Ich weiß nicht, wie lange die Drohne mich gejagt hat", erzählt er der DW, heilfroh darüber, dass er der Gefahr entrinnen konnte. "Ich hatte große Angst."

Ein anderer Angriff endete tödlich: Zwei französische Mitarbeiter der Schweizer Hilfsorganisation HEKS starben am 1. Februar bei einem Drohnenangriff in Beryslaw, vier weitere wurden verletzt. Sie seien "von Drohnen gejagt worden", gab einer der Überlebenden zu Protokoll.

Nach Darstellung der Organisation wurde eines ihrer beiden Autos, die weithin sichtbar als Hilfskonvoi gekennzeichnet waren, von einer Drohne angegriffen. Als die Insassen des zweiten Fahrzeugs ihren Teamkollegen zur Hilfe eilten, wurden sie von weiteren Drohnen attackiert. Von sogenannten "Double Taps", also Doppelschlägen, bei denen eine zweite Attacke auf die Ersthelfer zielt, berichteten auch andere Augenzeugen der DW.

"Die FPV-Drohnen verschwinden nie, sie fliegen ständig über der Stadt", sagt Walerij Bjelyj, der stellvertretende Leiter der Bezirkspolizei von Beryslaw. Wir treffen ihn in einem kleinen Dorf außerhalb der Reichweite der Drohnen. Dort äußert er einen schrecklichen Verdacht: "Sie üben in Beryslaw, sie trainieren an Zivilisten." Seine Mitarbeiter seien schon mehrfach unter Beschuss geraten, wenn sie Opfern von Drohnenangriffen helfen oder die Angriffe dokumentieren wollten.

Militärische und zivile Ziele

Das humanitäre Völkerrecht verbietet gezielte Angriffe auf Zivilisten. Sowohl Kommandeure als auch einfache Soldaten sind verpflichtet, zwischen militärischen und zivilen Zielen zu unterscheiden. Sie müssten "alle möglichen Vorkehrungen treffen, um den Schaden für die Zivilbevölkerung so gering wie möglich zu halten", betont der britische Anwalt Wayne Jordash, der sich auf Kriegsverbrechen spezialisiert hat und die ukrainische Justiz berät. "Drohnen sind da keine Ausnahme."

Bei hochpräzisen Waffen wie FPV-Drohnen, mit denen der Angreifer das Ziel sehen kann, "sollte der Spielraum für Unfälle, der Spielraum für zufällige Schäden deutlich geringer sein", betont er. Wenn zivile Ziele regelmäßig von solchen Waffen getroffen würden, habe man "eine viel klarere Ausgangsbasis, um auf Kriegsverbrechen zu schließen".

Porträt des britischen Anwalts Wayne Jordash KC
Der britische Anwalt Wayne Jordash KC, Präsident von Global Rights ComplianceBild: DW

Angriffe von der anderen Seite des Dnipro

Wer für die Drohnenangriffe verantwortlich ist, lässt sich nicht zweifelsfrei belegen. Anhand der durchschnittlichen Reichweite und der möglichen Flugbahn der Drohnen konnte die DW jedoch lokalisieren, von wo die Angriffe mutmaßlich lanciert wurden: Es ist die Gegend um die Städte Kachowka und Nowa Kachowka, die gegenüber von Beryslaw auf der anderen Seite des Dnipro liegen.

Dort sind mehrere russische Einheiten stationiert, die nachweislich Drohnen einsetzen. Darunter sind die 10. Spezialbrigade, die 205. Motorschützen-Brigade und das Freiwilligenbataillon BARS-33, benannt nach dem sowjetischen Weltkriegshelden Wassili Margelow.

Über die Einsätze der 10. Spezialbrigade, die dem russischen Militärgeheimdienst GRU untersteht, ist wenig bekannt. Die Einzelheiten eines Drohnenangriffs wurden allerdings öffentlich: Die Staatsanwaltschaft in Cherson leitete im vergangenen Juni Ermittlungen gegen einen Soldaten der Brigade ein, nachdem sie ein Gespräch mit seinem Vorgesetzten mitgeschnitten hatte. Sie wirft ihm vor, im Mai 2023 zwei Zivilisten im Bezirk Beryslaw absichtlich mit einer Drohne attackiert zu haben.

Angeblich "keine Zivilisten" in der Gegend

Die 205. Motorschützen-Brigade operiert schon lange in der Region Kachowka. Auf Telegram bekennt sie sich öffentlich zu mehreren Drohnenangriffen in Beryslaw, von denen die meisten gegen Fahrzeuge gerichtet waren. Diese würden "alle zerstört", schrieb ein Drohnenpilot in dem Messenger-Dienst. Es gebe keine Zivilisten in der Gegend, behauptet er. Mit diesem Kommentar belaste er sich selbst, sagt der Jurist Wayne Jordash. Der Soldat unternehme nicht den Versuch, zivile Opfer zu vermeiden. De facto "entscheidet er, dass jedes Individuum ein legitimes militärisches Ziel ist".

Drohnenangriff auf ein Haus in der Ukraine
Angriff mit einer Drohne, der dem Freiwilligenbataillon BARS-33 zugeschrieben wirdBild: Screenshot | Telegram: Senator_Basyuk_702

 Test einer neuen Drohne

Das Freiwilligenbataillon BARS-33 ist seit dem Frühjahr 2023 in der Gegend von Kachowka und Nowa Kachowka im Einsatz. Die Einheit scheint einen Schwerpunkt auf den Drohnenkrieg zu legen. In Rekrutierungsaufrufen wirbt sie besonders um Drohnenpiloten.

Gegründet wurde das Bataillon auf Initiative von Wladimir Saldo, dem Gouverneur der russischen Besatzungsbehörden in der Region Cherson. Im Oktober 2023 verkündete er, dass BARS-33 eine neue Drohne namens "Weles" getestet habe.

Auf Telegram veröffentlichte Videos zeigen Drohnenangriffe von BARS-33 in der Region Beryslaw, auch mit der neuen Drohne "Weles".

Sanktionen gegen den Drohnen-Hersteller

Produziert wird die "Weles" von der Firma Aero-Hit in der Stadt Chabarowsk im fernen Osten Russlands. Die Firma ist eng verbunden mit dem russischen Politiker Konstantin Basjuk, einem einflussreichen Unterstützer des Freiwilligenbataillons BARS-33. Basjuk vertritt die rechtswidrig annektierte ukrainische Region Cherson im Russischen Föderationsrat in Moskau und wirbt regelmäßig für das Freiwilligenbataillon. Sowohl Saldo als auch Basjuk stehen unter westlichen Sanktionen.

Konstantin Basjuk mit Kämpfern des Freiwilligenbataillons BARS-33
Auf seinem Telegram-Kanal präsentiert sich Konstantin Basjuk mit Kämpfern des Freiwilligenbataillons BARS-33Bild: Screenshot Telegram ©Senator_Basyuk/294

Im Juni verhängte das US-Finanzministerium auch Sanktionen gegen Aero-Hit mit der Begründung, dass "Weles-Drohnen von in Cherson stationierten russischen Streitkräften gegen ukrainische Ziele eingesetzt" worden seien.

Diese Sanktionen würden die Produktion nicht beeinträchtigen, konterte Firmenchef Wiktor Jatsenko, der sich in einem Interview mit "400 erfolgreichen Kampfeinsätzen" der neuen Drohne brüstete. "Zielkunde" sei das Freiwilligenbataillon BARS-33. Konfrontiert mit den Ergebnissen dieser Recherche erklärte Aero-Hit, es sei "ein nicht-militärisches Unternehmen und arbeite nicht mit dem Verteidigungsministerium zusammen".

Keine Stellungnahme

Wer genau die Drohnenangriffe auf Zivilisten und zivile Infrastruktur in Beryslaw und Umgebung angeordnet und ausgeführt hat, lässt sich nicht zweifelsfrei belegen. Unsere Recherche legt jedoch nahe, dass die drei genannten Einheiten für die Angriffe verantwortlich sein könnten.

Die DW hat das russische Verteidigungsministerium, die Politiker Wladimir Saldo und Konstantin Basjuk, das Freiwilligenbataillon BARS-33 und die Administratoren zweier einschlägiger Telegram-Kanäle um eine Stellungnahme zu den Ergebnissen dieser Recherche gebeten. Keiner von ihnen hat unsere Fragen beantwortet. 

Redaktion: Mathias Bölinger

Factchecking: Birgitta Schülke

Juristische Beratung: Florian Wagenknecht

 

Nina Werkhäuser Reporterin