Wie Russland Frauen für den Ukraine-Krieg anwirbt
3. November 2023Schirmmütze in Tarnfarben, Kalaschnikow in der Hand, Optimismus in der Stimme: So präsentiert sich "Walküre" auf einer russischen Internetplattform. Das Video mit der jungen Soldatin wurde angeblich in der "Zone der militärischen Spezialoperation" aufgenommen, wie in Russland das Kriegsgebiet in der Ukraine genannt wird.
"Walküre" heißt eigentlich Natalia, sie stammt aus dem Ural-Gebirge und hat wie alle in der "Zone der militärischen Spezialoperation" einen Kampfnamen. Neben ihr sitzt "Dämon" alias Julia aus Donezk.
"Dämon ist ihr Seelenzustand", scherzt "Walküre" über die Kameradin. "Sie ist ungehalten im Streben und es spielt gar keine Rolle, dass sie ein Mädchen ist!" "Dämon" nickt. Sie trägt eine kugelsichere Weste.
Viel Geld und gute Sozialleistungen für den Einsatz im Ukraine-Krieg
Das Video mit den beiden Frauen tauchte vor ein paar Wochen im Internet auf und wurde seitdem tausendfach angeklickt. In dem Interview, das mit Bildern einer Schießübung unterlegt ist, betonen die jungen Soldatinnen unter anderem, wie wichtig ihnen der Dienst an der Waffe sei. Die beiden sollen dem Bataillon "Bors" angehören, das laut russischen Medien als sogenannte Freiwilligen-Kampfeinheit dem russischen Verteidigungsministerium unterstellt ist.
Zurzeit wirbt "Bors" auf einer großen russischen Kontakt-Plattform Personal an. Gesucht werden vor allem Drohnen-Piloten und Scharfschützen, aber auch Sanitäter und Fahrer. Der Vertrag, der Interessierten angeboten wird, soll eine Laufzeit von sechs Monaten haben, heißt es, und auch Sozialleistungen beinhalten. Monatsgehalt: 220.000 Rubel - umgerechnet knapp 2300 Euro. Für russische Verhältnisse ist das sehr viel Geld. Die Anzeige ist genderneutral formuliert.
Gleichzeitig werden auf einem anderen Account mit dem Namen "Kampffreundin" explizit Frauen angesprochen, denen Verträge mit exakt den gleichen Konditionen angeboten werden wie bei "Bors": gleiche Dauer, gleiches Gehalt. Gesuchte Berufe hier: Scharfschützinnen und Drohnenpilotinnen. Zufall? In ihrem Video erzählt "Dämon" Julia von "Bors", dass sie gerade zur Scharfschützin ausgebildet werde und auch lerne, eine Drohne zu bedienen. "Walküre" Natalia sei als Sanitäter-Ausbilderin tätig.
Moskaus "bezaubernde Armee"
Die beiden Frauen sind keine Einzelfälle. Im März dieses Jahres teilte der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu anlässlich des Internationalen Frauentags stolz mit, dass zurzeit rund 44.500 Frauen in der Armee dienen würden. 1100 von ihnen nähmen unmittelbar an "militärischen Spezialoperationen" in der Ukraine teil, jede dritte von ihnen sei vom Staat ausgezeichnet worden. Weitere 1300 studierten an Militärhochschulen. Schoigu bezeichnete sie als "bezaubernde Armee". 128 Soldatinnen dieser "bezaubernden Armee" wurden im vergangenen Jahr für ihre besonderen Leistungen ausgezeichnet, 24 davon für die Beteiligung an Kampfhandlungen an der Front.
Laut der russischen Nachrichtenagentur Ria Novosti sind Frauen in allen Waffengattungen der russischen Streitkräfte tätig und üben insgesamt 150 Berufe aus.
Aus dem Gefängnis direkt in den Krieg
Schoigu erwähne jedoch nicht, dass auch immer mehr Frauen angeworben würden, die als Gefangene in russischen Gefängnissen einsitzen, sagt die in Berlin lebende Menschenrechtsaktivistin Olga Romanowa im Gespräch mit der Deutschen Welle. Ihre Nichtregierungsorganisation "Russland hinter Gittern" hilft Gefangenen, unter anderem durch Rechtsbeistand. Sie ist in Russland gut vernetzt.
Laut "Russland hinter Gittern" wurden die ersten 50 inhaftierten Frauen vor genau einem Jahr in einer Justizvollzugsanstalt in der von Russland annektierten ukrainischen Stadt Luhansk angeworben. In der Folge seien weitere Frauen aus Gefängnissen in Russland für die Front rekrutiert worden, berichtet Romanowa. Inzwischen seien es Tausende.
Soldatinnen als "Opfer der Propaganda"
Anders als Schoigu nennt sie die Frauen nicht "bezaubernde Armee", sondern "Opfer der Propaganda". Sie hätten zum einen moralische Beweggründe, zum anderen reize sie das viele Geld. Zudem würde ihnen nach der Rückkehr aus dem Krieg ihre Strafe erlassen. Auch männliche Strafgefangene würden zahlreich für die Front angeworben, so Romanowa. Im Gegensatz zu den Männern, die eher pragmatisch denken würden, seien viele Frauen jedoch fest davon überzeugt, dass sie mit ihrem Kampfeinsatz ihrem Heimatland in einer schwierigen Zeit helfen: "Für sie ist das die Chance, ihr Leben neu zu beginnen und eines Tages zu ihren Familien als besserer Mensch zurückzukehren, und als Heldin mit Geld."
Zu Frauen, die nicht aus Gefängnissen, sondern freiwillig an die Front gehen, hat Romanowa keinen persönlichen Kontakt. Sie vermutet, dass die meisten von ihnen entweder ihren Männern an die Front folgten oder "aus den Organen der Staatsmacht" kämen, allen voran der Polizei. Sie würden einen "Goldregen sehen, der plötzlich auf sie niederprasselt," mutmaßt die Aktivistin.
Gleichberechtigung im negativsten Sinne
Auf die Frage, was das verstärkte Anwerben von Frauen über den Zustand russischer Streitkräfte aussagt, stellt Romanowa mit bitterer Ironie fest: "Wenn ich die Zustände in den russischen Gefängnissen oder an der Front nicht kennen würde, würde ich von der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau sprechen. Selbstverständlich aber werden diese Frauen als Kanonenfutter benutzt. In dieser Hinsicht sind sie dann in der Tat den Männern gleichgestellt."
Romanowa hofft, dass sich am Ende viele Frauen gegen den Krieg und eine "falsch verstandene Liebe zur Heimat" entscheiden.