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Wie sich Mediziner an Nazi-Gräueln schuldig machten

9. November 2023

Forschende präsentieren einen detaillierten Report über die medizinischen Gräueltaten im Nationalsozialismus und deren Auswirkungen bis in die Gegenwart. Das soll auch heutige Mediziner sensibilisieren.

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Ausstellung zu Zwangssterilisation und Patientenmord
Viele Mediziner und Wissenschaftler beteiligten sich aktiv an Zwangssterilisierungen, Euthanasie oder systematischer Ermordung Bild: Thomas Frey/dpa/picture alliance

"Es ist oft überraschend, wie begrenzt das Wissen über die medizinischen Verbrechen der Nazis in der medizinischen Gemeinschaft heute ist, vielleicht abgesehen von einer vagen Vorstellung von Josef Mengeles Experimenten in Auschwitz", so Herwig Czech von der Medizinischen Universität Wien.

Aus diesem Grund hatten Czech und seine Mitstreiter dem Chefredakteur des Fachjournals "The Lancet" vor drei Jahren die Gründung einer Kommission vorgeschlagen, die dieses Wissen erweitern und Schlüsse für die Zukunft ziehen sollte. 

Kommission trägt detaillierten Bericht zusammen

Nun liegt dieser sehr umfassende Bericht vor. Die Forschenden haben nicht nur historische Beweise über die medizinischen Gräueltaten im Nationalsozialismus zusammengetragen, sondern zeigen auch sehr deutlich, dass diese Gräueltaten nicht etwa nur von Einzelnen begangen wurden und dass sich manches bis in die Gegenwart auswirkt.

Der Bericht beschreibt detailliert, wie Mediziner und Gesundheitsexperten die sogenannten "Zwangssterilisationsgesetze" mit ausarbeiteten und aktiv an der Sterilisierung von mehr als 350.000 Menschen beteiligt waren, die nach den nationalsozialistischen Rassengesetzen als "genetisch minderwertig" eingestuft worden waren.

Viele Sterilisierte hatten danach schwere körperliche und psychische Probleme, sehr viele starben auch an dem Eingriff. Mindestens 230.000 Menschen mit geistigen, kognitiven und anderen körperlichen Behinderungen wurden während des Zweiten Weltkriegs in sogenannten "Euthanasieprogrammen" in Deutschland und den besetzten Gebieten ermordet. Zehntausende wurden als medizinische Versuchsobjekte etwa in Konzentrationslagern missbraucht.

Geistig behinderte Kinder spielen zusammen mit Ordensschwestern
Mindestens 230 000 Menschen mit geistigen, kognitiven und körperlichen Beeinträchtigungen wurden im Zweiten Weltkrieg ermordet.Bild: dpa/picture-alliance

Eugenik als Rechtfertigung

Die nationalsozialistische Rassenlehre diente als pseudowissenschaftliche Rechtfertigung für diese Gräueltaten. Grundlage für diese "Rassenhygiene" war die Eugenik, die Lehre der vermeintlich guten Erbanlagen. Die Eugenik beruft sich auf die Evolutionslehre, die der britische Naturforscher Charles Darwin Mitte des 19. Jahrhunderts veröffentlicht hatte. Demnach hatten sich in einem natürlichen Auswahlprozess nur die fittesten Exemplare durchgesetzt, während die anderen verschwunden waren.

Die Eugeniker übertrugen diese natürliche Selektion auch auf die menschlichen Gesellschaften. Demnach sollten die Fortpflanzung der Menschen mit vermeintlich guten Erbanlagen gefördert und die Fortpflanzung von Menschen mit vermeintlich schlechten Erbanlagen verhindert werden.

Wirtschaftliche und soziale Not

In Deutschland und auch in anderen Ländern entwickelte sich die Eugenik zu einer Wissenschaft, die quer durch alle Parteien, Schichten und eben auch in Forschung und Medizin gesellschaftsfähig wurde - und grässliches Leid anrichtete.

Anfang des 20. Jahrhunderts stießen diese Gedanken in Deutschland auf besonders fruchtbaren Boden. Die Massenarbeitslosigkeit trieb Millionen Menschen ins Elend, die Kriminalität nahm drastisch zu, Krankheiten verbreiteten sich, die Sterblichkeit war sehr hoch. Für dieses Elend wurde - auf Grundlage der Eugenik - die "minderwertige biologische Substanz" verantwortlich gemacht.

Nur drastische eugenische Maßnahmen wie Zwangssterilisierungen oder die Tötung "unwerten Lebens" könnten einen bevorstehenden Niedergang der Gesellschaft aufhalten. Es sei zu wenig Geld, Nahrung und "Lebensraum" vorhanden, um es mit "unwertem Leben" zu teilen.

Augsburg benennt Straße nach Nazi-Opfern um - zwei Straßenschilder
In Augsburg wird nicht mehr der Täter, sondern Opfer der Euthanasie-Programme geehrt.Bild: Ulf Vogler/dpa/picture alliance

Völkischer Rassenwahn

Und vor allem den Nazis diente die Eugenik als willkommene Rechtfertigung für ihren Rassenwahn. Einerseits förderten sie etwa die Aufzucht sogenannter "reinrassisch arischer Kinder", andererseits wollten sie vermeintlich "unwertes Leben" durch Zwangssterilisierung, Euthanasie oder eben systematische Ermordung, etwa in Konzentrationslagern, radikal vernichten. Wissenschaftler und Mediziner waren daran tatkräftig beteiligt.

Der nun präsentierte Bericht stütze sich auf 878 Quellen und sei der bislang umfassendste Bericht über diese Gräueltaten, schreibt "The Lancet". Er zeichnet den Werdegang der medizinischen Forschung in der Nazizeit auf und porträtiert einzelne Täter ebenso wie einzelne Opfer und inhaftierte Ärzte, die unter schwierigsten Bedingungen ihre Mitinsassen, zum Beispiel in Konzentrationslagern, behandelt haben. 

Spuren bis in die Gegenwart

Trotz intensiver Aufarbeitung wurden viele Täter und Helfershelfer nach dem Krieg nicht oder erst sehr spät zur Verantwortung gezogen. Und auch von den Nazis zusammengetragenes Wissen werde laut Bericht oftmals unkritisch weiterbenutzt. So wird der Anatomieatlas des österreichischen Anatomen Eduard Pernkopf wegen der Detailtreue bis heute verwendet. Dabei nutzte der überzeugte Nationalsozialist auch Bilder von Menschen, die in der Nazizeit hingerichtet worden waren.

Beisetzung menschlicher Knochen aus Grabungen in der FU Berlin
Der Bericht will auch heutige Mediziner und Forschende dafür sensibilisieren, woher das vermittelte medizinische Wissen kommt. Bild: Monika Skolimowska/dpa/picture alliance

Ein weiteres Anliegen der Kommission ist es deshalb, Mediziner dafür zu sensibilisieren, woher das vermittelte medizinische Wissen kommt. "Medizinstudierende, Forscher und praktizierende Gesundheitsfachkräfte sollten wissen, wo - und von wem - die Grundlagen des medizinischen Wissens stammen; das sind sie den Opfern des Nationalsozialismus schuldig", sagt Shmuel Pinchas Reis von der Hebrew University of Jerusalem, ein Co-Vorsitzender der Kommission.

Lehren für die Zukunft ziehen

Ihren Bericht sehen die Autoren als ersten Schritt an, sie planen umfangreiche Online-Dokumentationen. "Die medizinischen Gräueltaten der Nazis gehören zu den extremsten und am besten dokumentierten Beispielen medizinischer Beteiligung an Menschenrechtsverletzungen in der Geschichte", so Sabine Hildebrandt von der Harvard Medical School in Boston, eine weitere Co-Vorsitzende der Kommission.

"Wir müssen die Geschichte des Schlimmsten der Menschheit studieren, um ähnliche Muster in der Gegenwart zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken, mit dem Ziel, das Beste zu fördern."

DW Mitarbeiterportrait | Alexander Freund
Alexander Freund Wissenschaftsredakteur mit Fokus auf Archäologie, Geschichte und Gesundheit@AlexxxFreund