Neu auf DVD: "Die Russen kommen"
4. Juni 2017Schaut man sich heute, im Jahr 2017, den Spielfilm "Die Russen kommen" an, begibt man sich auf eine faszinierende Zeitreise. Dabei begegnet einem nicht nur ein interessantes Stück Filmgeschichte. Es sind Bruchstücke deutscher Historie, die vor dem Auge des Betrachters vorüberziehen. Die Geschichte des Films "Die Russen kommen" ist mindestens ebenso interessant wie der Film selbst.
Teile von "Die Russen kommen" wurden für anderen Film verwendet
In einer Szene von Heiner Carows Film schaut sich ein junges Pärchen im letzten Kriegsjahr 1945 den NS-Propagandafilm "Kolberg" an, der an den Durchhaltewillen der deutschen Soldaten und Bevölkerung appellieren sollte. "Die Russen kommen" wurde im Jahr 1968 in der DDR gedreht. Doch bevor er in die Kinos kam, verboten ihn die DDR-Behörden. Die Zensoren überredeten den Regisseur jedoch, Material aus "Die Russen kommen" für einen Film zu verwenden, der stärker den SED-Kunstrichtlinien entsprach.
Dieser Film kam dann 1971 unter dem Titel "Karriere" in die DDR-Kinos. Carow distanzierte sich später von "Karriere". Die vollständige Kopie des verbotenen Films "Die Russen kommen" galt dagegen lange als verschollen. Doch die Schnittmeisterin des Films, die Frau des Regisseurs, Evelyn Carow, hatte eine Kopie versteckt. Diese wurde dann fast 20 Jahre später, 1987, in der DDR zur Aufführung gebracht. Bei den Berliner Filmfestspielen wurde "Die Russen kommen" im Februar 1988 auch einem westlichen Publikum gezeigt.
Nach langer Zeit wieder zu sehen
Es sollten weitere 30 Jahre vergehen, bis "Die Russen kommen" mit Hilfe moderner digitaler Technik restauriert wurde - und jetzt in einer Fassung auf DVD vorliegt, die dem Original von 1968 weitgehend entspricht.
1945, 1968, 1971, 2017 - Daten deutscher Geschichte, die viel über die Geschichte des Landes aussagen, die von Teilung und Aufarbeitung von Vergangenheit erzählen, vom Umgang mit Kunst und Kultur. Gerade deswegen können ältere Filme so wertvoll sein für das Verständnis von deutscher Geschichte. Die verdienstvolle Reihe "Edition Filmgeschichte", herausgegeben von verschiedenen nationalen und internationalen Filmmuseen und -Archiven, sorgt für die Wiederentdeckung solcher Schätze.
Zurück zum Film: "Die Russen kommen" erzählt von dem 16-jährigen Hitler-Jungen Günter Walcher (Gert Krause-Melzer, unser Bild oben) und dessen Erlebnissen in den letzten Kriegstagen in einem Provinznest an der Ostsee. Günter entdeckt die angespülte Leiche eines Soldaten am Ostsee-Strand. Kurz darauf gesellt sich ein russischer Junge dazu. Die beiden versuchen sich zu verständigen. Wenig später wird ebendieser russische Junge von deutschen Soldaten gejagt - und erschossen.
Ein überzeugter Hitler-Junge als Held in einem DDR-Film
Günter, der dem Jungen bei der Verfolgung eigentlich die Hand reichen will, wird Zeuge des Mordes. Von den örtlichen Nazis erhält er das Eiserne Kreuz. Er ist ein Held. Auch wenn Günter diese Auszeichnung eigentlich nur durch ein Missverständnis bekommen hat: Regisseur Heiner Carow zeichnet seinen filmischen "Helden" nicht als heimlichen Widerstandskämpfer, sondern als überzeugten Anhänger nationalsozialistischer Ideale.
In der Folge, es ist der 8. Mai, die Deutschen kapitulieren, gerät Günter in russische Gefangenschaft. Er wird als Mörder angeklagt. Günters Weltbild gerät ins Wanken. Nicht etwa weil er es bereut, auf Seiten der Deutschen gestanden zu haben, sondern weil er nicht mehr auseinanderhalten kann, was nun "Gut" und "Böse" sein soll.
Auch die Form des Films missfiel den DDR-Behörden
Gerade das gefiel dem "Ministerium für Kultur der DDR" aber nicht. Sie zogen den Film noch vor der geplanten Premiere zurück: "Der Film entspricht in seiner Grundlinie nicht dem marxistisch-leninistischen Geschichtsbild", hieß es in der Begründung der "Hauptverwaltung Film". Carows Arbeit verdecke die historische Wahrheit "auch durch die Anwendung der äußeren Gestaltungsmittel, die keine realistische Sicht auf die Zeitumstände am Ende des 2. Weltkriegs erlauben."
"Der Film 'Die Russen kommen' ist die Geschichte meiner Kindheit", schrieb Regisseur Carow später. Carow - und sein Drehbuchautor Claus Küchenmeister - hatten selbst erlebt, wie es ist, als Junge in den letzten Kriegswochen für Hitlers letztes Aufgebot an die Front geschickt zu werden. Doch seine ganz persönliche filmische Verarbeitung nützte Carow bei seinem zweiten Spielfilm als Regisseur nur wenig: "Von Psychologisierung des Faschismus war die Rede, von unerlaubten Schockwirkungen, von der Hippiebewegung", so Carow über die Gründe des Verbots.
Heiner Carow: "Der Film erinnerte an eigene Mitschuld"
Der entscheidende Punkt war aber wohl ein anderer, vermutetet Heiner Carow: "Es ist sinnlos, die Argumente anzuführen, weil sie alle unsinnig sind. Diejenigen, die hauptbeteiligt am Verbot des Films waren, waren Funktionäre, die in der Nazi-Wehrmacht mitgemacht haben, in den Antifa-Schulen Umgeschulte. Sie waren Meister im Verdrängen und verstanden sich als Antifaschisten von Geburt an. Sie mochten den Film nicht, weil er sie an die eigene Mitschuld erinnerte."
Heiner Carow: "Die Russen kommen", DDR 1968/87, 88 Minuten. Die DVD ist erschienen bei der Edition Filmmuseum, Nr. 107. Beteiligt sind das Goethe-Institut, die DEFA-Stiftung, Das Bundesarchiv und die Deutsche Filmförderungsanstalt sowie der Progress Filmverleih. In der Edition ist auch der mit dem Material von "Die Russen kommen" 1971 entstandene Spielfilm "Karriere" enthalten.