Wir brauchen mehr Druck
14. Oktober 2015
Wie ehrgeizig ist das erste Nachhaltige Entwicklungsziel: Beseitigung von Armut in all ihren Formen und überall?
Es hört sich vielleicht etwas gemein an, aber ich denke, es ist etwas bedeutungslos. Ich weiß noch nicht einmal, was es bedeutet. Absolute Armut könnte man abschaffen, aber relative Armut ist ein ganz anderes Thema. Ich denke, diese Agenda hat insofern Stellung bezogen, indem sie sich auf absolute Armut fokussiert. Aber das Thema Ungleichheit wird gesondert betrachtet.
Könnten Sie den Unterschied zwischen absoluter und relativer Armut erklären?
Die Armutsgrenze in den USA zum Beispiel hat nichts zu tun mit der Armutsgrenze in Indien. Es ist eine relative Armutsgrenze. Sie wird immer wieder angeglichen, aber sie bezieht sich auf das mittlere Einkommen in den USA. Würde man sie als absolute Armutsgrenze einführen, wäre im Grunde jeder in Indien arm.
Was wir also versuchen, ist eine universelle absolute Armutsgrenze zu setzen, die sich nicht auf das Bruttoinlandsprodukt eines bestimmten Landes bezieht. Dies hat den Vorteil, dass es für arme Länder keine unmöglich zu erreichenden Ziele hervorbringt. Der Nachteil ist jedoch, dass Aspekte der Ungleichheit keine Rolle spielen.
Wenn das Ziel, so wie es jetzt formuliert ist, eher bedeutungslos ist, wie würden Sie ihm mehr Bedeutung verleihen?
Ich würde nicht sagen, dass es bedeutungslos ist in dem Sinne, wie wir über die Zukunft der Menschheit im nächsten Jahrtausend nachdenken sollten. Aber wenn man über den Kontext der Millennium Development Goals (MDGs) nachdenkt, würde ich sagen, wäre es besser, sich auf eine tatsächlich erzielbare absolute Wertung zu konzentrieren: Armut ist für uns inakzeptabel. Punkt. Wir sollten eine Wertung abgeben und bereit sein, die Ressourcen dafür zur Verfügung zu stellen.
Wird man im Jahr 2030 sagen: “Schaut, wir haben es geschafft, Armut gehört der Vergangenheit an”?
Ich glaube nicht, dass es erreichbar ist. Ich glaube nicht einmal, dass sich die Leute dazu verpflichtet fühlen werden, es zu erreichen. Es ist ein bewegliches Ziel, denn wenn ein Land reicher wird, gibt es einen entsprechenden Zwang, die Armutsgrenze anzupassen.
Ich denke dabei aus der Perspektive eines Landes, das zwar gewillt ist, etwas zu tun, aber politische Zwänge und begrenzte Ressourcen hat und vielleicht auch zu wenig Engagement zeigt. Wenn man sagt: „Lasst uns ein so umfassendes Ziel setzen, dass es zum Scheitern verurteilt ist“, gibt es sehr viel weniger Motivation. Aber man muss dabei eine Balance finden, damit man auch nicht zu anspruchslos wird. Die Länder sollten schon etwas Druck spüren.
Was würden Sie vorschlagen, wie könnte diese Balance gefunden werden?
Ich war Teil des sogenannten “hochrangigen Gremiums bedeutender Personen zur Nach-2015-Entwicklungsagenda” ('High level panel of eminent persons on the post-2015 development agenda'), einberufen von Ban Ki-moon. Eine Sache, die wir in unseren Bericht aufgenommen haben ist die Idee, dass viele der Ziele für die untersten zwanzig Prozent der Bevölkerung gelten sollten. Wenn man dann etwa die Kindersterblichkeitsrate in den USA betrachtet, ist sie unannehmbar hoch. Wenn man also verlangt, dass sie auch für die untersten 20 Prozent unter einem bestimmten Niveau liegen soll, übt das Druck auf die Vereinigten Staaten aus und führt dazu, dass Ungleichheit in einem ganz neuen Ausmaß reduziert werden kann.
Abhijit Banerjee ist Professor für Volkswirtschaftslehre am Massachusetts Institute of Technology (MIT), Mitgründer des Abdul Latif Jameel Poverty Action Lab (J-PAL), und ist Forschungsmitglied der Innovations for Poverty Action NGO. Außerdem war er Co-Autor von "Poor Economics: Plädoyer für ein neues Verständnis von Armut" (Originaltitel: "Poor Economics: A Radical Rethinking of the Way to Fight Global Poverty")