"Wir importieren religiöse Konflikte"
25. August 2015DW: Herr Soeffner, das Bundesinnenministerium rechnet mit rund 800. 000 Flüchtlingen allein in diesem Jahr. Macht Ihnen diese Zahl Sorgen?
Hans Georg Soeffner: Ja, einerseits macht sie mir Sorgen. Und zwar, weil wir eigentlich die Chance hätten, mit dieser Zahl fertig zu werden. Aber die Länder wie auch der Bund hängen mit der Frage, wie diese Zahl zu bewältigen wäre, sehr weit zurück. Wir wissen ja seit langem, dass diese Flüchtlingsströme kommen würden - und auch, dass sie zunehmen würden. Mich lässt die unendliche Langsamkeit verzweifeln, mit der sich Deutschland hier bewegt. Man muss sich klar machen, dass die Bundesrepublik das Land ist, das nach 1945 die meiste Zuwanderung hatte. Mehr als die ehemaligen Kolonialstaaten Frankreich und Großbritannien. Deutschland ist am meisten durchmischt worden, das Land hatte große Flüchtlingsströme zu bewältigen, große Abwanderungen und große Zuwanderungen, dazu die ersten sogenannten Gastarbeiterströme. Allein bis zum Jahr 2000 kamen 23 Millionen Menschen aus dem Ausland nach Deutschland. Gleichzeitig wanderten 17 Millionen Menschen ab. Wir haben also eine dauernde Durchmischung, und das lief verhältnismäßig gut. Aber im Moment habe ich den Eindruck, niemand macht sich so richtig klar, was das an Planung bedeutet.
Was wäre denn eine kluge Politik, um die derzeitigen Herausforderungen zu bewältigen?
Es geht nicht nur um die Unterbringung, sondern darum, dass das deutsche Ausbildungssystem - und zwar für Kinder ebenso wie für Erwachsene - sehr schnell in die Lage kommen muss, den Zuwanderern die entsprechenden Sprachkenntnisse zukommen zu lassen. Geschieht das nicht, werden die Flüchtlinge nicht integriert werden können. Zudem braucht es die Kooperation mit der Bundesanstalt für Arbeit.
Wie sehen Sie die kulturelle Dimension der Zuwanderung?
Wenn wir nicht entschieden Kultur- und Sprachkenntnisse vermitteln, werden wir sehr schnell mit Kulturkonflikten zu tun haben - Kulturkonflikte, die durch die anderen Religionen bedingt sind, deren Anhänger in Deutschland einwandern. Wir haben jetzt schon einen Anteil von 4,5 Millionen Muslimen in Deutschland. Ihre Zahl ist allmählich gewachsen, so dass Deutschland hinsichtlich der Kulturkonflikte relativ ruhig war. Aber die derzeitige Zuwanderung hat noch einmal eine ganz andere Dimension. Und wir sehen, dass wir mit der Zuwanderung auch die zwischen den Muslimen selbst bestehenden religiösen Konflikte importieren.
Was erwarten Sie für die Zukunft dieser Konflikte?
Wir müssen davon ausgehen, dass diese Konflikte zunehmen werden. Denn mit den Flüchtlingen kommen ja auch die politischen und religiösen Konflikte ihrer Herkunftsländer nach Deutschland - die Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten etwa, oder die zwischen liberalen Muslimen und Salafisten. Wir kennen ja bereits die Konflikte zwischen Türken und Kurden sowie Alewiten und dem Rest der Muslime. Grundsätzlich sind wir also mit derartigen Konflikten vertraut. Aber angesichts der nun zu erwartenden Zahlen von Zuwanderern werden diese sich noch einmal steigern. Und darum müssen wir sehr schnell damit beginnen, die deutschen Wertvorstellungen - sprich: die Verfassung - zu vermitteln. Denn nur dann wissen die Zuwanderer, welche Regeln hier gelten.
Derzeit werden wir Zeugen eines vereinzelten Zusammenbruchs der staatlichen Ordnung - Stichworte: Calais, Lampedusa, Mazedonien. Dort beobachten wir ja geradezu anarchische Zustände. Haben die europäischen Staaten hinreichend Gestaltungskraft, um dieser Situation Herr zu werden? Dass sie also vermeiden, dass solche Situationen überhaupt erst entstehen?
Die Situation ist darum so schwer zu bewältigen, weil die Europäer die Probleme über Jahre haben schleifen lassen. Auch Großbritannien hat eine relativ unkontrollierte Zuwanderung zugelassen, Frankreich ebenso. Die Meldesysteme in Großbritannien sind außerordentlich schwach - dort muss man nicht einmal einen Personalausweis bei sich führen. Die Briten müssen jetzt lernen. Und sie werden natürlich auch lernen. Aber sie haben Probleme über Jahre verschleppt. Auf diese Weise hat Europa es zugelassen, dass das Chaos wuchs. Da ist Deutschland - ohne dass ich uns besonders rühmen will - organisatorisch etwas besser vorgegangen. Wir haben relativ schnell begriffen, dass man solche Probleme nicht nur mit der Polizei lösen kann, sondern dass es auch gezielte Sozialarbeit und die entsprechenden Ämter braucht, die dann auch möglicherweise Arbeitsplätze zuweisen können. Dadurch haben wir hier bislang eine etwas andere Situation. Wir haben also das Potenzial. Aber wir dürfen die Probleme nicht weiter verschleppen, wie wir es bislang getan haben.
Einmal mehr stellt sich angesichts der Flüchtlinge die Frage, was die deutsche Gesellschaft zusammenhält. Was ist Ihre Antwort?
Mit Sicherheit nicht eine Leitkultur - die haben wir schon lange nicht mehr. Deutschlands Stärke besteht darin, dass wir eine der besten Verfassungen der Welt haben. Und die muss gelehrt und umgesetzt werden.
Also eine Art Verfassungspatriotismus, um Dolf Sternbergers alten Begriff nochmal zu bemühen.
Ja, darauf zielt es ab. Dazu zählt auch das Problem der Religionsfreiheit, wie es Ernst-Wolfgang Böckenförde bereits in den 1970er-Jahren formuliert hat: Das Maß dessen, was einen Säkularstaat wirklich ausmacht, ist das Maß, das er an Religionsfreiheit zulässt. Das heißt, Gesellschaften mit unterschiedlichen religiösen und ideologischen Gruppierungen sind immer fragil. Damit müssen wir leben. Aber sie haben den großen Vorteil, dass es sich um offene Gesellschaften handelt. Jedenfalls dann, wenn der Staat sehr klar und fast erbarmungslos darauf achtet, dass die Verfassung wirklich gilt und durchgesetzt wird. Alles andere ist illusorisch.
Hans-Georg Soeffner ist Soziologe. Bis zu seiner Emeritierung lehrte er an der Universität Konstanz. Von 2007 bis 2011 war er Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS). Zuletzt gab er den Band "Fragiler Pluralismus (Wissen, Kommunikation, Gesellschaft)" heraus.
Das Gespräch führte Kersten Knipp.