"Wir wollen eine kleine Revolution"
2. Oktober 2017"Seit fünf Uhr morgens sind wir hier", erzählt mir die 69-jährige Sisca. Trotz des Dauerregens ist sie mit ihrer Schwiegertochter und ihrem Mann zur Escuela Industrial in Barcelona gekommen, um ihre Stimme abzugeben. Sie stehen ganz vorne an der Schultür und wollen unter den ersten sein, "die Geschichte schreiben", wie sie sagt. Um halb acht Uhr morgens sind es etwa 600 Menschen, die im Schulhof warten. Sisca will ihren Nachnamen nicht nennen, "aus Sicherheit", sagt sie. Sie will mit "ja" stimmen, weil sie sich für ihre Kinder und Enkelkinder eine bessere Zukunft wünscht. "Madrid hat uns nie beachtet oder respektiert. Das soll sich ändern."
Die katalanische Sprache werde unterdrückt, auch solle mehr Steuergeld nach Barcelona statt in die Hauptstadt fließen. Eine komplette Unabhängigkeit wolle sie aber nicht, sagt die kleine rothaarige Frau, schließlich habe sie Familie in ganz Spanien. "Wir sind keine Separatisten aber wir wollen eine kleine Revolution. Wenn viele Leute für 'ja' stimmen, hat die Regionalregierung eine bessere Ausgangslage für Verhandlungen über mehr Selbstbestimmung." Aber die Regionalregierung sage doch, sie kämpfe für eine echte Unabhängigkeit, erwidere ich. Sisca winkt ab. "Nein, das glauben doch nur die jungen, alle ab 30 wissen, dass das unrealistisch ist."
"Die Demokratie haben sie uns genommen"
Über die Sozialen Medien verbreiten sich an diesem Morgen rasend schnell Videos: Die nationale Polizei soll in die Schule Jaume Balmes eingedrungen sein, Urnen und Wahlzettel beschlagnahmt haben. Vor Ort berichtet mir eine aufgebrachte Augenzeugin: Als die Polizisten wieder heraus wollten, hätten sich ihnen die Menschen in den Weg gestellt - Alte, Frauen und sogar Kinder. "Dann sind sie nervös geworden und haben ihre Stöcke rausgeholt und angefangen, damit Leute zu schlagen. Dabei wollten wir nur wählen. Sie haben uns die Demokratie genommen."
Ein paar Blocks weiter warten vor einer anderen Schule ebenfalls hunderte Menschen. Auch hier ist die Stimmung angespannt. "Die Polizei kann jeden Moment kommen", sagt ein Mann, der seit Stunden in der Schlange steht. "Die Anweisung lautet: Hinsetzen, sobald die Polizei kommt." In der Schule schleust Wahlhelferin Gloria Roig die Wähler so schnell wie möglich durch. Sie müssten schneller sein als die Polizei, sagt sie, aber selbst wenn die komme: "Wir haben keine Angst." Die Rentnerin zeigt den Wählern, wo sie den Wahlzettel bekommen. Die meisten setzen sofort ein Kreuz, für jeden sichtbar. Blickgeschützte Wahlkabinen gibt es nicht.
Trotz aller Eile läuft die Stimmabgabe an den Urnen schleppend. Der Grund ist das immer wieder zusammenbrechende Mobilfunknetz. Das aber brauchen die Helfer, um die Wählernamen von einer Online-Liste zu streichen. Die größte Sorge der Wähler und Wahlhelfer ist, dass die Polizei die Urnen konfisziert. Wie soll es dann noch ein glaubwürdiges Ergebnis geben?
Gefahr für Kinder bewusst in Kauf genommen
Um sicherzugehen, dass die Polizei die Schule vor der Stimmabgabe nicht schließt, haben die Menschen vor der Tür des Gebäudes geschlafen. In anderen Schulen haben Eltern sogar ihre Kleinkinder mitgenommen, "Pyjama Parties" gefeiert. Dazu hatte die Unabhängigkeitsbewegung sogar explizit aufgerufen.
Von der Gegenseite war das harsch kritisiert worden. Damit habe man Kinder bewusst in Gefahr gebracht, weil bekannt war, dass die Polizei räumen würde, so das Argument. Angeles, eine Wählerin, die ihren Nachnamen lieber nicht nennen möchte, meint dazu: "Kinder sind auch an anderen Orten, wo es Gewalt gibt. Zum Beispiel bei Stierkämpfen."
Dann wird es auf einmal laut. Als eine Gruppe von Wählern die Schule gerade verlassen will, wird aufgeregt "Tür zu! Tür zu!" gerufen. Die wird sofort geschlossen. Durch das vergitterte Tor ist schwer erkennbar wer oder was der Auslöser dafür ist.
Marc Borras Batalla, ein Wahlkoordinator der katalonischen Regierung, erklärt mir später, es sei ein Zivilpolizist gewesen, der sich umsehen wollte. "Die Menschen haben ihn aber sofort als Polizist erkannt." Ein Beistehender sagt mir: "Die werden schon total paranoid hier."
Provokationen auf beiden Seiten
Auf der Plaza Catalunya hat sich in der Zwischenzeit ein kleines Grüppchen aus Gegendemonstranten gebildet. Sie halten spanische Flaggen in den Händen. Unter ihnen ist auch Eric Martinez, ein bekannter Gegner der Unabhängigkeitsabstimmung und Mitorganisator von Anti-Referendumsdemonstrationen. Schnell ist er von Schaulustigen und Journalisten umringt. "Unsere Empfehlung an die Referendumsgegner war: Bleibt zu Hause heute, es gibt Provokateure und mit denen wollen wir nichts zu tun haben." Auch habe man die Polizei ihre Arbeit machen lassen wollen, erklärt Martinez die kleine Zahl der Gegendemonstranten.
Schon fangen ein paar ein paar Unabhängigkeitsbefürworter an, ihn zu beschimpfen, einem anderen nehmen sie die spanische Flagge weg. Dann zeigen hinter Martinez auf einmal zwei glatzköpfige, tätowierte Männer mit ebenfalls spanischen Flaggen den Hitlergruß. Er kenne die Männer nicht, beteuert Martinez. Ein anderer Gegendemonstrant sagt, dies seien vermutlich Separatisten. Es passiere öfter, dass sich Separatisten mit Spanienflaggen austatten und mit Nazisymbolen provozieren würden. "Sie tun alles um uns, die 'Patrioten Spaniens' zu diskreditieren." Auf einmal geht alles ziemlich schnell: Etwa 40 Polizisten der Regionalpolizei bahnen sich den Weg zu den Gegendemonstranten und drängen sie unter den Rufen "Raus Faschisten!" vom Platz.
Provokationen habe es in den letzten Tagen immer wieder von beiden Seiten gegeben, sagt mir Unabhängigkeitsaktivistin Anna Arqués. Ihr Fazit des Tages jedenfalls lautet: "Wir haben bereits gewonnen, weil die Leute wählen gegangen sind. Aber auch wegen der Bilder, die jetzt um die Welt gehen."