Wirtschaftliche Folgen der Flüchtlingswelle
14. September 2015Wie sind die kurzfristigen Auswirkungen?
Experten rechnen mit einem leicht höheren Bruttoinlandsprodukt - sowohl in diesem als auch im kommenden Jahr. "In Deutschland dürfte die Wirtschaftsleistung 2015/16 grob geschätzt um ein viertel Prozent steigen", schätzt Holger Sandte, Europa-Chefvolkswirt der Großbank Nordea. Sein Argument: Der Staat erhöht seine Ausgaben zur Unterbringung der Asylbewerber. "Schätzungen gehen von Kosten der Unterbringung und Versorgung von rund 12.000 Euro pro Person pro Jahr aus", erklärt der Experte. "Das wären Mehrausgaben von 5,4 Mrd Euro oder knapp 0,2 Prozent des für 2015 erwarteten nominalen Bruttoinlandsprodukts." Das wirkt wie ein Mini-Konjunkturprogramm.
Was wird sich mittelfristig ändern?
Bis 2020 dürfte die starke Zuwanderung das Bruttoinlandsprodukt um etwa 1,7 Prozent erhöhen, sagt der Deutschland-Chefvolkswirt von UniCredit, Andreas Rees. "Das entspricht einem Zuwachs von rund 50 Milliarden Euro, verglichen mit einem Szenario ohne zusätzliche Einwanderung." In seinen Berechnungen schätzt der Experte, dass in diesem Jahr - wie von der Bundesregierung vorausgesagt - etwa 800.000 Flüchtlinge nach Deutschland kommen, in den Jahren danach jeweils rund 500.000. "Wenn man davon ausgeht, dass jeder zweite Einwanderer mittelfristig einen Job findet, dann erhöht sich dadurch das Arbeitskräfteangebot", sagte Rees. "Das ist eine Chance für mehr Wachstum in Deutschland in den kommenden Jahren."
Braucht die Wirtschaft eine starke Zuwanderung?
Ja, sagen Verbände und Analysten. Derzeit sind in Deutschland offiziell 574.000 offene Stellen gemeldet. "Das Beschäftigungswachstum hat sich in den vergangenen Monaten verlangsamt, das Wirtschaftswachstum aber nicht", sagt Nordea-Experte Sandte. "Das deutet auf ein wachsendes Missverhältnis auf dem Arbeitsmarkt hin: unter den offiziell 2,8 Millionen Arbeitslosen haben viele Unternehmen Schwierigkeiten, die Qualifikationen zu finden, die sie benötigen." Deutsche Unternehmen dürften daher erfreut sein über die Zunahme des Arbeitskräfteangebots, zu der es kommt, wenn aus einem Großteil der Flüchtlinge permanente Einwanderer werden. "Schaffen wir es, die Menschen, die zu uns kommen, schnell auszubilden, weiterzubilden und in Arbeit zu bringen, dann lösen wir eines unserer größten Probleme", sagt Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel mit Blick auf den Fachkräftemangel.
Und die Arbeitslosigkeit? Wird die steigen?
Nicht einmal jeder zehnte Flüchtling bringt die Voraussetzungen mit, um direkt in eine Arbeit oder Ausbildung vermittelt zu werden. Das sagt Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles. "Nicht alle, die da kommen, sind hoch qualifiziert. Der syrische Arzt ist nicht der Normalfall." Dies werde sich auch in der Arbeitslosenstatistik niederschlagen. Das Essener Wirtschafsforschungsinstituts RWI sieht dennoch positive Effekte. Mittel- bis langfristig dürften insbesondere die vielen jungen Zuwanderer die Sozialsysteme entlasten, sagen die Forscher. Dazu sei es allerdings nötig, sie in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Schwarze Null - oder muss Schäuble wieder Schulden machen?
Steuerschätzer halten trotz der Milliarden-Zusatzausgaben für die Flüchtlingshilfe einen schuldenfreien Bundeshaushalt im kommenden Jahr für machbar. "Die schwarze Null ist immer noch erreichbar", sagt der Ökonom Jens Boysen-Hogrefe vom Kieler Institut der Weltwirtschaft (IfW). "Vorher gab es dafür ein recht komfortables Polster für den Haushalt, jetzt ist er eher auf Kante genäht." Die Spitzen von CDU, CSU und SPD haben sich darauf geeinigt, dass der Bund 2016 angesichts der wachsenden Flüchtlingszahl sechs Milliarden Euro zur Bewältigung der Lage bereitstellt. "Ein bisschen von dem Geld fließt auch wieder in die Staatskasse zurück", sagt Boysen-Hogrefe, der im Steuerschätzerkreis des Bundesfinanzministeriums sitzt. Durch den hohen Zustrom an Flüchtlingen erhöhe sich die Zahl der Verbraucher im Land. Ein Teil ihrer Ausgaben fließe etwa in Form von Mehrwertsteuer wieder zurück in die Staatskasse.
iw/ul (rtr)