Wirtschaftskrise trifft Estland
28. April 2009Marina und Ants Kumer haben fünfzehn Jahre in der Papierfabrik "Atlanta" am Ortsrand von Kohila gearbeitet, einem Städtchen 30 Kilometer südlich der estnischen Hauptstadt Tallinn. Am 1. April 2009 war dort endgültig Schluss mit der Produktion - Marina und Ants gehörten zu den Letzten, die noch an den Maschinen standen und Schreibwaren für den europäischen und amerikanischen Markt produzierten.
Eine Produktion nach der nächsten schließt
Jetzt stehen die beiden in einer der verwaisten Hallen und haben die neue Situation noch gar nicht richtig realisiert, sagen sie: "In guten Zeiten haben hier 500 Leute gearbeitet, dann wurde immer weiter abgebaut bis auf 200 Arbeiter." Im Februar 2009 habe ihnen dann die holländische Konzernzentrale von "Atlanta" mitgeteilt, dass die Fabrik geschlossen würde.
Rund 5000 Menschen leben in Kohila, einer freundlichen Stadt mit bunten Holzhäusern und Gärten. Sogar ein Gymnasium gibt es, 2008 ist ein neues Sportzentrum eröffnet worden und in der Ortsmitte entsteht ein kleiner Bürokomplex.
Doch der Schein trügt: Die holländische Papierfabrik ist nicht die Einzige, die hier die Produktion eingestellt hat. Seit der Jahresmitte 2008 stehen auch 500 Meter weiter in der Sperrholzfabrik "Baltic Panel" die Maschinen still.
"Der baltische Tiger war ein Kätzchen"
Die ehemals 130 Arbeiter aus der Region säßen zu Hause und wüssten nicht, wie es weiter gehen soll, erzählt der ehemalige Fabrikdirektor Tiit Tammsaar, der auch schon estnischer Landwirtschaftsminister war: "Wir haben hier früher 50.000 Kubikmeter Sperrholz pro Jahr produziert", erinnert er sich. Die Probleme hätten damit begonnen, dass es im April 2007 zu Zusammenstößen zwischen in Estland lebenden Russen und der Polizei in Tallinn gekommen sei, weil ein sowjetisches Kriegsdenkmal aus der Tallinner Innenstadt entfernt worden war. Daraufhin seien erst die Aufträge aus Russland ausgeblieben – und die globale Wirtschaftskrise habe dem Unternehmen den Rest gegeben. "Am Ende muss man wohl sagen, dass der baltische Tiger wohl doch eher ein Kätzchen war", sagt Tammsaar.
Das sieht die estnische Regierung unter Premierminister Andrus Ansip ganz anders. Sie ist zuversichtlich, dass das Land sich schnell wieder von der Krise erholt. Ein Hauptproblem sei doch, dass die Situation in den baltischen Staaten viel kritischer betrachtet werde als in anderen Ländern, beklagt der estnische Wirtschaftsminister Juhan Parts: "Niemand sagt zum Beispiel 'Der deutsche Tiger springt nicht mehr' - obwohl doch die Situation in Deutschland etwa genauso ist wie bei uns. Der estnische Tiger jedenfalls schläft keineswegs", meint der Minister.
Die Leute müssten aber verstehen, dass man in zwei Jahren aus Estland nicht so etwas wie Baden-Württemberg machen könne. Zu den neoliberalen Reformen der vergangenen Jahre gebe es keine Alternative, so Parts. "Protektionismus funktioniert in einem so kleinen Land wie Estland nicht. Ich bin mir sicher: Wir sind am Ende die Gewinner dieser Krise", zeigt sich der Wirtschaftsminister optimistisch.
Arbeitslose sehen in eine düstere Zukunft
Die Situation in Estland sei laut Juhan Parts auch nicht zu vergleichen mit den Problemen, die etwa Lettland habe. Dem Land hätte ohne einen Sieben-Milliarden-Euro-Kredit des Internationalen Währungsfonds (IWF) tatsächlich der Staatsbankrott gedroht, das hatte die Regierung in Riga Anfang 2009 unumwunden zugegeben. Auch das größte lettische Geldinstitut, die Parex-Bank, wurde nur durch Verstaatlichung vor dem sicheren Aus bewahrt. Ganz so dramatisch ist die Situation in Estland nicht, weil man in guten Zeiten aus zehn Prozent des Bruttoinlandprodukts Rücklagen geschaffen hat.
Solche Zahlenspiele und die Frage, ob der estnische Tiger nun schläft oder weiter springt - all das spielt für Marina und Ants aus Kohila im Moment keine Rolle. Zwar erhalten auch sie vom Staat in den ersten Monaten nach dem Jobverlust noch Arbeitslosengeld, doch ihre Zukunft sehen die beiden erst einmal düster: "Für uns wird das ganz schwierig: Wir haben beide gleichzeitig die Arbeit verloren. Ich bin 46, Ants 62 - da findet er sowieso keinen neuen Job", sagt Marina.
Zudem verlören jeden Tag mehr Leute ihre Arbeit. Und sie ergänzt: "Wir haben noch Glück, weil unsere Wohnung abbezahlt ist. Aber die beiden Kinder studieren in Tallinn, das kostet ja alles. Wie es weiter geht, wissen wir einfach nicht."
Autor: Christoph Kersting
Redaktion: Sandra Voglreiter