Vaclav-Havel-Preis geht an russischen Oppositionellen
10. Oktober 2022Der russische Historiker und Journalist Wladimir Kara-Mursa bekommt den diesjährigen Vaclav-Havel-Menschenrechtspreis. Das gab die Parlamentarische Versammlung des Europarates am 10. Oktober bekannt. Gegen den Oppositionellen, der seit sechs Monaten in russischer Untersuchungshaft sitzt, laufen gleich mehrere Verfahren.
Als am 24. Februar Russlands Überfall auf die Ukraine begann, war Kara-Mursa in Moskau. Zwei Wochen später gab der russische Historiker und Journalist dem US-Sender CNN ein Interview. Darin bezeichnete er das Vorgehen Russlands als Aggression und die russische Staatsmacht als mörderisches Regime. Wenige Stunden später wurde er in seinem Haus festgenommen und noch am selben Tag wegen "Ungehorsams gegenüber der Polizei" zu 15 Tagen Haft verurteilt.
Wenige Tage später wurde ein Strafverfahren gegen Kara-Mursa wegen Verbreitung von "Fälschungen" über die russische Armee und die "spezielle Militäroperation", wie der Ukraine-Krieg in Russland nur genannt werden darf, eingeleitet. Grund war seine Rede am 15. März vor dem Repräsentantenhaus des US-Bundesstaates Arizona. Kara-Mursa drohen in diesem Fall fünf bis zehn Jahre Haft. Ein weiteres Strafverfahren wurde Ende Juli gegen Kara-Mursa eröffnet - wegen Aktivitäten einer "unerwünschten Organisation". Hier droht eine Haft von bis zu vier Jahren. Schließlich wurde Kara-Mursa am 6. Oktober wegen Hochverrats angeklagt. Die Ermittler behaupten, er habe ausländische Geheimdienstler beraten und dafür monatlich 30.000 Dollar kassiert. Bei einem Schuldspruch drohen ihm bis zu 20 Jahre Gefängnis.
Keine Illusionen in Bezug auf Putin
Wladimir Kara-Mursa, Sohn des 2019 verstorbenen gleichnamigen Journalisten und TV-Moderators, wurde 1981 geboren. In die Politik kam er eigenen Angaben zufolge über den russischen Politiker Boris Nemzow, den er 1999 bei einem Interview im Wahlkampf zur Staatsduma kennenlernte. Nemzow war einer der Vorsitzenden der Partei "Union rechter Kräfte" (SPS) und Kara-Mursa arbeitete für die Zeitung "Nowyje Iswestija". Bei den Wahlen kam die SPS auf 8,5 Prozent der Stimmen, und im Jahr 2000 wurde der 19-jährige Kara-Mursa Berater des Fraktionsvorsitzenden Nemzow. Bis heute empfindet Kara-Mursa den Mord an Nemzow im Jahre 2015 in Moskau nicht nur als politische, sondern auch als persönliche Tragödie.
Er bezeichnet sich selbst als überzeugten Oppositionellen. Mehr als einmal hat er gesagt, er habe sich keine Sekunde lang Illusionen über Wladimir Putin gemacht. Am 20. Dezember 1999 habe dieser eine Gedenktafel für den langjährigen sowjetischen Geheimdienstchef Jurij Andropow auf dem Lubjanska-Platz am KGB-Gebäude in Moskau wiedereröffnet. Der Tag wird in Russland als Feiertag der Mitarbeiter der Sicherheitsdienste gefeiert.
Bei einem Treffen mit seinen Kollegen an diesem Tag habe Putin - damals Ministerpräsident unter Boris Jelzin - ausdrücklich die Arbeit der KGB-Mitarbeitern, die zur Arbeit in die Regierung geschickt worden seien, gelobt, so Kara-Mursa in einem Interview mit "Radio Liberty". Danach habe Putin auf Josef Stalin angestoßen. "Ich möchte mich nicht als eine Art Orakel oder Prophet darstellen, aber es scheint mir, dass dies schon damals ganz offensichtliche Dinge waren", sagt der Oppositionelle.
Der Magnitsky Act in den USA
Kara-Mursa verbindet seine politischen Aktivitäten mit seiner Arbeit als Journalist. 2003 wurde ihm die Leitung des Büros des russischen Senders RTVi in Washington angeboten. Acht Jahre lebte er in den USA. In den Jahren 2010 und 2011 trug er im Namen der russischen Opposition aktiv zur Durchsetzung des Gesetzes "Über Verantwortung und Rechtsstaatlichkeit" im US-Kongress bei, das Einreiseverbote und das Einfrieren von Vermögenswerten von Vertretern der russischen Elite und von Beamten vorsah, die für schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind.
Benannt wurde der Gesetzentwurf nach dem 2009 in einem russischen Gefängnis verstorbenen Anwalt Sergej Magnitski, der die Veruntreuung von Milliarden Dollar aus dem russischen Haushalt durch russische Sicherheitskräfte und Beamte aufgedeckt hatte. 2012 verabschiedeten die USA als erstes Land den Magnitsky Act, dem sich später Kanada und andere Länder anschlossen.
Nach der Ermordung von Boris Nemzow reisten Kara-Mursa und der frühere russische Ministerpräsident Michail Kasjanow nach Washington, um den Mitgliedern des Kongresses die sogenannte "Nemzow-Liste" zu übergeben. Sie enthielt Namen von Politikern und Journalisten, die offen zur Verfolgung von Nemzow aufgerufen hatten. Kara-Mursa setzte sich auch dafür ein, dass der Platz vor der russischen Botschaft in Washington nach Nemzow benannt wurde. Und nach der Annexion der Krim durch Russland setzte er sich konsequent für Sanktionen gegen Moskau ein.
Vergiftungen 2015 und 2017
Am 26. Mai 2015 aß Wladimir Kara-Mursa mit einem seiner politischen Berater im Zentrum von Moskau zu Mittag und traf sich später mit zwei weiteren Kollegen. Plötzlich wurde ihm schlecht: Herzrasen und Erbrechen. Er lag eine Woche im Koma und verbrachte anderthalb Monate im Krankenhaus. Es folgte eine sechsmonatige Behandlung in den USA, wo seine Frau und seine drei Kinder lebten. Medienberichten zufolge entdeckte der französische Arzt Pascal Kinz in Kara-Mursas Körper Spuren von Schwermetallen. Viele vermuten, dass es sich um eine Vergiftung handeln musste.
2017 wurde Kara-Murza erneut mit den gleichen Symptomen wie 2015 ins Krankenhaus eingeliefert. Diesmal wurde bei ihm eine Vergiftung durch eine nicht identifizierte Substanz diagnostiziert. Kara-Mursa blieb zehn Tage auf der Intensivstation, nach einer weiteren Woche wurde er entlassen. Danach unterzog er sich erneut einer Reha in den USA. Kara-Mursas Anzeige bei den russischen Ermittlungsbehörden, damit diese ein Verfahren einleiten, führte zu nichts. Die Behörden weigerten sich, beide Vergiftungsfälle zu untersuchen.
Im Jahr 2021 analysierten Journalisten von Bellingcat, Der Spiegel und The Insider die Bewegungen von Wladimir Kara-Mursa in den Jahren 2015 und 2017. Sie stellten fest, dass er in den Monaten vor beiden Vergiftungen vom FSB überwacht worden war und dass an den Vergiftungen Mitarbeiter des russischen Geheimdienstes beteiligt gewesen sein könnten - so wie an der Vergiftung des Oppositionellen Alexej Nawalny, der sich heute ebenfalls in einem russischen Gefängnis befindet. Kara-Murza selbst hat keine Zweifel daran, dass sich das Regime in Russland mit beiden Vergiftungen für den Magnitsky Act rächen wollte.
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk