Wo steht die EU im Konflikt um Berg-Karabach?
22. September 2023Seit Jahren wandelt die Europäische Union in Bezug auf Armenien und Aserbaidschan auf einem schmalen Grat. Leicht ist es nicht, in den Beziehungen zu den beiden Ländern die Balance zu wahren. Die beiden Nachbarländer sind in einen jahrzehntelangen Streit um Berg-Karabach verwickelt, einer abtrünnigen gebirgigen Region, die sich auf aserbaidschanischem Gebiet befindet, jedoch hauptsächlich von ethnischen Armeniern bewohnt wird.
Vor 30 Jahren, als sich die Sowjetunion, der beide Länder angehörten, auflöste, brach eine seit langem bestehende Feindschaft in einen offenen Konflikt aus. Über die Jahre flammte dieser immer wieder erneut auf, bis schließlich Baku 2020 siegreich aus einem sechswöchigen Krieg hervorging und die Kontrolle über weite Teile der Region übernahm.
Seit jedoch Baku Anfang dieser Woche zu einer als "anti-terroristisch" beschriebenen militärischen Aktion ansetzte, um seine Hoheit über die Enklave wiederherzustellen, werden im Europäischen Parlament Stimmen laut, die ein härteres Vorgehen der EU gegenüber Aserbaidschan fordern.
In einer schriftlichen Erklärung forderten vier hochrangige EU-Vertreter die Mitgliedsstaaten auf, "die Beziehungen der EU mit Aserbaidschan unter diesen Umständen grundsätzlich zu überdenken und die Verhängung von Sanktionen gegen die verantwortlichen Behörden in Aserbaidschan in Betracht zu ziehen". 60 Parlamentarier forderten am Donnerstag in einer weiteren Erklärung ebenfalls Sanktionen.
Doch ungeachtet der starken Gefühle, die damit zum Ausdruck gebracht wurden, haben diese gewählten Vertreter kaum Einfluss auf die Außenpolitik. Es ist fraglich, ob die Akteure, die das Sagen haben - die Regierungen der einzelnen EU-Staaten - sich tatsächlich auf ein solches Wagnis einlassen würden. Immerhin hat die EU erst im vergangenen Jahr mit Baku ein Abkommen über Gaslieferungen abgeschlossen, um Lieferungen aus Russland zu ersetzen.
Welche Rolle spielt die EU im Konflikt?
Im Vergleich zu Russland und der Türkei hat die EU in diesem Konflikt bislang nur eine recht kleine Rolle gespielt. Russland verhandelte 2020 einen Friedensvertrag - der als ungünstig für die Armenier gilt - sowie den Waffenstillstand diese Woche. Die Türkei hingegen ist nicht nur ein enger Verbündeter und Wirtschaftspartner Aserbaidschans, sondern auch ein wichtiger Waffenlieferant.
Gegenwärtig koordinieren sowohl Russland als auch die EU separate Friedensgespräche zwischen Eriwan und Baku. Moskaus Aufmerksamkeit ist jedoch durch die Invasion der Ukraine gegenwärtig sehr beansprucht und das scheint Baku zu bestärken, meint Marcel Röthig, Leiter des Regionalbüros Südkaukasus der Friedrich-Ebert-Stiftung in Tiflis, Georgien. "Die Türkei sieht ihre Rolle als die einer neuen zentralen Kraft im Kaukasus, die den Kaukasus formt", sagt Röthig. "Aserbaidschan spürt diesen Rückhalt und ist deutlich risikobereiter geworden als in den Jahren zuvor."
Armenien hingegen befindet sich wie andere ehemalige Sowjetstaaten auch in einem Militärbündnis mit Russland, doch Premierminister Nikol Paschinjan wendet sich zunehmend dem Westen zu, einschließlich der EU.
Was steht für die EU auf dem Spiel?
Anfang des Jahres richtete die EU auf Einladung Eriwans eine zivile Mission in Armenien ein. Diese umfasst Operationen an verschiedenen Punkten der Grenze zu Aserbaidschan. Erklärtes Ziel der Mission ist es laut der Website der EU-Mission in Armenien, "die Lage vor Ort zu beobachten und darüber Bericht zu erstatten, zur Sicherheit der Menschen in den von Konflikten betroffenen Regionen beizutragen und Vertrauen zwischen den Bevölkerungen von Armenien und Aserbaidschan sowie nach Möglichkeit deren Behörden aufzubauen".
Im vergangenen Jahr unterzeichnete die EU jedoch auch ein Gasabkommen mit Baku. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen pries das autoritär regierte Aserbaidschan sogar als einen "entscheidenden Partner" bei der Bewältigung der Energiekrise, obwohl westliche Beobachter ernsthafte Bedenken hinsichtlich des Zustands der Demokratie und der Menschenrechtsverletzungen im Land haben.
Die Lage ist heikel angesichts des Krieges, der in der Ukraine tobt, und der Reihe mächtiger geopolitischer Akteure (USA, China, Iran und Israel), die in der Kaukasusregion beteiligt sind. "Das Ziel der EU ist eine stabile Nachbarschaft, die nicht durch Kriege bedroht wird", betont die tschechische Abgeordnete Marketa Gregorova von der Fraktion der Grünen im EU-Parlament in einer schriftlichen Antwort an die DW. "Es ist im strategischen Interesse der EU, dass Armenien und Aserbaidschan prosperieren, der Einfluss Russlands in Armenien und der Region minimiert wird, Aserbaidschan auf dem Weg zu Demokratie unterstützt wird und der Jahrzehnte währende Konflikt gelöst wird", fügt sie hinzu.
Gregorova sagt, sie habe schon lange eine größere Rolle der EU bei der Vermittlung eines langfristigen Friedens gefordert, doch dies sei auch mit Risiken behaftet, insbesondere aufgrund des Gasabkommens. "Wenn wir uns stärker in Berg-Karabach engagieren, wird Aserbaidschan weniger Interesse daran haben, die EU mit Energie zu versorgen, zumindest zu den gegenwärtigen Preisen und Bedingungen", führt sie aus. Die Lösung liege darin, "sich auf die weitere Diversifizierung unserer Ressourcen zu konzentrieren, und zwar schnell". Sanktionen seien eine Option, doch die EU müsse auch überlegen, das Gasabkommen an Bedingungen zu knüpfen.
Wie geht es weiter in Berg-Karabach?
Jetzt, da Aserbaidschan die Kontrolle über Berg-Karabach für sich beansprucht und die armenischen Separatisten die Waffen niedergelegt haben, stehen die humanitäre Lage und die Aufrechterhaltung der Gespräche zwischen beiden Seiten im Vordergrund.
Baku blockiert die einzige Straße zwischen Berg-Karabach und Armenien und unterbindet so die Versorgung der Zivilbevölkerung. Während der jüngsten Kämpfe sind viele ethnische Armenier aus Berg-Karabach geflohen, was zu dem Vorwurf führte, die Region werde ethnisch gesäubert.
In einer schriftlichen Erklärung verurteilte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell die militärische Eskalation und forderte die "sofortige Einstellung der Feindseligkeiten und die Beendigung der aktuellen militärischen Aktivitäten Aserbaidschans". Borrell betonte außerdem "die dringende Notwendigkeit, zu einem Dialog zwischen Baku und den Armeniern in Karabach" zurückzukehren. "Diese militärische Eskalation sollte nicht als Vorwand benutzt werden, den Exodus der Bevölkerung vor Ort voranzutreiben."
Am Mittwoch diskutierten Botschafter der EU-Mitgliedsstaaten in Brüssel die Lage, doch nur ein Land zeigte Interesse, umgehend Sanktionen zu verhängen, berichtete eine diplomatische EU-Quelle, die anonym bleiben will, der DW. Der Schwerpunkt habe darauf gelegen, die militärischen Aktionen zu beenden, Fortschritte auf diplomatischem Wege zu erzielen und die humanitäre Lage zu verbessern, fügte die Quelle hinzu.
In zwei Wochen werden alle Blicke auf Granada im Süden Spaniens gerichtet sein, wo fast 50 europäische Länder zu Gesprächen im Rahmen der Europäischen Politischen Gemeinschaft erwartet werden - darunter auch Armenien und Aserbaidschan.
Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.