Berlin träumt von Enteignung
26. September 2021Mit ihrer lila-gelben Farbgebung und den mehrsprachigen Slogans sind die Plakate, die für ein "Ja" beim Volksentscheid über das Eigentum in Berlin werben, kaum zu übersehen.
"Damit Berlin unsere Heimat bleibt" ist in verschiedenen Sprachen aufgedruckt. In der unteren Ecke jedes Plakats steht das Logo der Gruppe, die hinter der Kampagne steht: "Deutsche Wohnen und Co. Enteignen".
Mit dem Referendum will die Gruppe den Berliner Senat dazu drängen, ein Gesetz zu erarbeiten, das die Enteignung von Immobiliengesellschaften ermöglicht. Nach Ansicht der Aktivisten wäre eine solche Gesetzgebung mit dem deutschen Grundgesetz vereinbar.
Sie beziehen sich dabei auf Artikel 15 der Verfassung, der besagt: "Grundstücke, Bodenschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Verstaatlichung durch ein Gesetz, das Art und Maß der Entschädigung regelt, in öffentliches Eigentum oder in andere Formen öffentlicher Unternehmen überführt werden."
175.000 Unterschriften
Die Firma Deutsche Wohnen, der in Berlin rund 113.000 Wohnungen gehören, ist das Hauptziel der Enteignungs-Initiative. Aber auch andere Unternehmen wären betroffen, wie Vonovia, das derzeit versucht, die Deutsche Wohnen zu kaufen, und die Pears Group.
175.000 gültige, handschriftliche und vollständig geprüfte Unterschriften von wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürgern in Berlin mussten die Organisatoren sammeln. Dass dieses Ziel in nur wenigen Monaten erreicht wurde, zeigt, wie groß die Krise auf dem Wohnungsmarkt ist.
Nun steht die nächste Hürde an: Beim Volksentscheid müssen mindestens 25 Prozent aller Wahlberechtigten mit "Ja" stimmen. Das bedeutet, dass rund 625.000 Ja-Stimmen für ein gültiges Referendum erforderlich sind.
Selbst wenn auch diese Bedingung erfüllt wird, ist der Hürdenlauf nicht beendet. Denn laut deutschem Wahlrecht ist ein Volksentscheid rechtlich nicht bindend. Die Berliner Landesregierung, die an diesem Sonntag ebenfalls neu gewählt wird, wäre durch den Volksentscheid lediglich verpflichtet, sich mit dem Votum auseinanderzusetzen.
Juristen sagen Klagewelle voraus
Und auch sie hat nicht das letzte Wort. Sollte die Landesregierung tatsächlich ein Enteignungsgesetz ausarbeiten, müsste dieses vom Berliner Abgeordnetenhaus verabschiedet werden. Und im Parlament ist eine Zustimmung alles andere als sicher.
Wie schwierig die Umsetzung von Volksentscheiden ist, zeigt das Beispiel vom Berliner Flughafen Tegel. 2017 hatte sich beim Referendum eine Mehrheit für den Weiterbetrieb des Flughafens ausgesprochen. Das Berliner Abgeordnetenhaus stellte sich jedoch gegen das Votum und stimmte für die Schließung Tegels.
Jakob Hans Hien, Rechtsanwalt bei Knauthe, einer der führenden Immobilienkanzleien Berlins, glaubt, dass ein Enteignungsgesetz in Berlin nicht anwendbar wäre. Er prognostiziert eine Klagewelle.
Ein großes Problem sieht er in der Frage der Entschädigung. "Eine Entschädigung weit unter dem Marktwert wäre verfassungswidrig", sagte er der DW. "Die Unternehmen würden sonst nicht nur ihres Eigentums beraubt, sondern auch einen direkten wirtschaftlichen Schaden erleiden. Der Staat darf sich nicht durch Enteignung bereichern."
Druck auf Immobilienkonzerne
Sollte der Vorschlag angenommen werden, hält er es für wahrscheinlicher, dass der Senat die Umfrage als Druckmittel einsetzen wird, um Zugeständnisse von den Vermietern zu erhalten.
Sollte tatsächlich ein Enteignungsgesetz vorbereitet werden, würde die Bundesregierung seiner Meinung nach unter Druck geraten, ein eigenes Gesetz zu erlassen, um es außer Kraft zu setzen.
"Da die Immobilie und nicht das gesamte Unternehmen enteignet würde, wäre für jede Immobilie eine Einzelklage möglich", sagte er. "Darüber hinaus würden sich die Klagen gegen das Gesetz als solches richten.
Neben den Klagen gegen die Enteignung und gegen die Höhe der Entschädigung würden wahrscheinlich auch Schadensersatzansprüche gegen die Stadt geltend gemacht werden."
Ein politisches Minenfeld
So tückisch wie die juristische Seite ist, so tückisch könnte auch die politische Seite sein. Berlin wird derzeit von einer linken Koalition aus SPD, Grünen und Linkspartei regiert. Sie sind in Bezug auf den Vorschlag stark gespalten.
Nur die Linkspartei unterstützt den Vorschlag nachdrücklich. Die Grünen geben gemischte Signale. Die Sozialdemokraten, die wahrscheinlich auch nach der Wahl die größte Partei in Berlin bleiben wird, haben sich mehrfach gegen die Initiative ausgesprochen.
"Kaum jemand glaubt, dass ein solches Gesetz wirklich verabschiedet wird", sagt Rechtsanwalt Hien. Er glaubt, dass sich die Lage am Wohnungsmarkt und die Stimmung in der Stadt weiter verschlechtern werden. "Die Frustration und Enttäuschung wird sehr groß sein".
Die Organisatoren sind anderer Meinung. Sie glauben, dass ihr Vorschlag "die Wohnungskrise beenden" und "Berlin retten" kann.
Der Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.