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Literatur

Wolfgang Hilbig: "»Ich«"

Sabine Peschel
9. Oktober 2018

Ein verliebter IM auf Abwegen. Sein Führungsoffizier, ein grotesker Philosoph. Hilbigs Roman ist eine böse Satire auf den Geheimdienst der DDR und ihre Literaturszene.

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Stasi-Akten Archiv Berlin Deutschland
Stasi-Akten im Berliner ArchivBild: picture-alliance/dpa/S.Pilick

 »Ich« ist der kürzeste und scheinbar schlichteste Titel in unserer Auswahl der 100 Bücher. Scheinbar, denn hinter diesem "Ich" verbergen sich eine Menge Kürzel und Decknamen: M. W., W., Cambert, C. - die mit dem "Ich" verschmolzenen Anführungszeichen deuten es schon an: Es handelt sich um eine dubiose Existenz. 

Wolfgang Hilbig erzählt die Geschichte eines Dichters in der DDR, der zum Spitzel für die Stasi wird. M. W. ist aufgewachsen in der Kleinstadt A., er lebt auch als Erwachsener noch bei seiner Mutter. Tagsüber arbeitet er als Heizer, abends verwandelt er sich in einen Schriftsteller, der in der bescheidenen alternativen Szene seiner Stadt angenommen werden möchte.

"Ich" von Wolfgang Hilbig

Wie man IM wird und das philosophisch verbrämt

Halb freiwillig, halb von den "grauen Herren" mit einer vorgetäuschten Vaterschaftsklage erpresst, beginnt er der geheimen Staatssicherheit Bericht zu erstatten. Alle sollen von allen überwacht werden - um diesem Stasi-Ziel gerecht zu werden, verliert er immer mehr den Bezug zur Alltagswelt, verspinnt sich in pseudophilosophische Gedanken: 

"Dass jeder jeden in der Hand hatte, vielleicht war dies das letztendliche Ziel des utopischen Denkens ... Und daher das geheime Verlangen der Utopisten nach Anarchie, die den Gedanken an den Zusammenbruch zutage fördert und den Dienst an der Überwachung der Gedanken erst notwendig macht."

Schließlich schafft M. den Absprung nach Berlin, wo er eine leidenschaftslose Verbindung mit seiner Vermieterin eingeht. Sie vermittelt ihm einen Job in einer Wäscherei. Doch die Stasi spürt ihn nach kurzer Zeit wieder auf, in Gestalt eines Majors Feuerbach. Dessen an Hegels Schüler Ludwig Feuerbach erinnernder Name ist eine der vielen satirischen Anspielungen, mit denen Hilbig seinen Roman durchsetzt hat. 

Büchner-Preisträger Wolfgang Hilbig
Der Büchner-Preisträger Wolfgang Hilbig bei einer Lesung im Jahr 2002Bild: picture-alliance/dpa/F. Rumpenhorst

Groteske Wendungen

Tagsüber huscht er jetzt wie eine Ratte spionierend durch den Berliner Untergrund und richtet sich in den Kellergängen zwischen alten Mietshäusern ein. Nachts mischt er sich unter die inoffizielle Literatenszene des Prenzlauer Bergs. Seine Tarnung ist gut, die Stasi sorgt für die Veröffentlichungen seiner Gedichte in Literaturzeitschriften. Unter dem Decknamen "Cambert" wird er auf den Untergrund-Dichter "Reader" angesetzt.

Als der Einsatz nichts bringt und er abgezogen werden soll, kann "Cambert" nicht von seiner Spitzeltätigkeit lassen. Er spioniert "Readers" Freundin aus dem Westen hinterher, in die er sich verliebt hat. 

Hilbigs Roman nimmt immer groteskere Wendungen, aus Täuschung wird Doppeltäuschung, W.s Lebensgeschichte zur albernen Pirouette. Immer komischer werden die tiefschürfenden Gespräche mit dem Führungsoffizier Feuerbach, immer treffender die satirischen Anspielungen auf die DDR-Literaturszene. 

Der Stoff lag auf der Straße

Wolfgang Hilbig hat für seinen Roman, der 1993 erschien, seine eigene Stasi-Akte ausgewertet. Er selber, ursprünglich ein Arbeiter, Heizer wie anfänglich auch seine Figur, hatte 1985 die DDR Richtung Westen verlassen. Als er 1990 zurückkam, lag der Stoff gewissermaßen auf der Straße. Als in der Nachwendezeit die Stasi-Akten zugänglich wurden, kamen immer mehr Kontakte von Schriftstellern zur Geheimpolizei ans Licht. Besonders schockierend war der Fall des Prenzlauer-Berg-Poeten Sascha Anderson. Als IM - inoffizieller Mitarbeiter - hatte er jahrelang seine engsten Schriftsteller-Freunde bespitzelt. 

DDR Stasi-Zentrale in Ost-Berlin
Die Stasi-Zentrale in Ost-BerlinBild: picture-alliance/dpa

Hilbig ging es nicht darum, die Stasi-Verstrickungen der Prenzlauer-Berg-Szene in einem Schlüsselroman zu kommentieren. Sein Buch ist vielmehr eine Satire, in der der ohnmächtige Sicherheitsapparat so nackt und entblößt dasteht wie die Literaturszene. Dabei ist es ihm phantastisch gelungen, die ins Absurde torkelnde Lebensatmosphäre der späten DDR einzufangen. 

 

Wolfgang Hilbig: "»Ich«" (1993), S. Fischer Verlag

Wolfgang Hilbig, geboren 1941, stammte aus der Stadt Meuselwitz in Thüringen. Er war gelernter Bohrwerksdreher, schrieb Lyrik und Erzählungen in Arbeiterliteraturzirkeln, aus denen er jedoch bald ausgeschlossen wurde, weil seine Gedichte zu frei waren. Er zog nach Leipzig und Berlin, arbeitete als Heizer. Ab 1979 lebte er als freier Schriftsteller, setzte sich 1985 mit einem Reisevisum in den Westen ab. 1990 zog er zurück nach Berlin. Wolfgang Hilbig starb 2007 an Krebs.