Wozu führt die neue Arbeits-Freizügigkeit?
17. März 2011Eine Sprachschule in der Kleinstadt Skarzysko, in Zentralpolen. Vier Frauen und drei Männer sitzen konzentriert in einem Kreis. In der Hand halten alle das Buch "Deutsch für jeden". Mit Mühe versuchen Sie Sätze auf Deutsch zu formulieren. Seit drei Monaten besuchen sie den Anfängerkurs "Deutsch für Erwachsene".
Unter ihnen ist Agnieszka Witkowska. Die 30-Jährige setzt ihre Brille nervös auf die Nase und seufzt. Eigentlich würde sie lieber Englisch lernen. Das hatte sie schon mal in der Schule. Aber die gelernte Buchhalterin weiß: da muss sie durch. Schließlich hat die Familie beschlossen nach Deutschland zu ziehen.
Voraussetzung: Gute Deutschkenntnisse
Agnieszkas Mann arbeitet bereits seit drei Jahren als Ingenieur in der Nähe von Wolfsburg. Zusammen mit ihren zwei Kindern im Alter von zwei und zehn Jahren will Agnieszka möglichst schnell zu ihrem Mann umziehen. "In Deutschland verdient man deutlich mehr und die Sozialleistungen sind höher als in Polen" begründet Agnieszka ihre Entscheidung. Sie hofft, wenn sie gut deutsch sprechen könne, dann finde sie in Deutschland auch eine Arbeitsstelle.
Bartek Grundniewski, der neben Agnieszka sitzt, nickt zustimmend. Auch er will nach Deutschland. Der studierte Informatiker ist sicher, dass er dort einen guten Job finden wird. Schließlich suchen seine Bekannten in Deutschland nach einer Arbeitsstelle für ihn. "Wenn mich nächste Woche jemand anruft und sagt, hier habe ich eine gute Stelle für dich gefunden, dann ziehe ich sofort um", sagt Bartek entschlossen. Seine Frau und sein Kleinkind kommen selbstverständlich mit.
"Ich kann sofort auswandern"
Nicht ohne Grund haben die beiden Teilnehmer des Deutschkurses entschieden, in diesem Jahr nach Deutschland zu ziehen. Denn ab dem 1. Mai dürfen polnische Bürger in Deutschland uneingeschränkt arbeiten. Bislang durften Polen in Deutschland nur dann einer Beschäftigung nachgehen, wenn sie von einer Heimatfirma entsandt wurden oder selbständig tätig waren. Aus Furcht vor der drohenden Konkurrenz aus Billiglohnländern hatte Deutschland bei dem EU-Beitritt Polens im Jahre 2004 beschlossen, die Freizügigkeit für Arbeitnehmer aus dem östlichen Nachbarland einzuschränken. Doch diese Einschränkung durfte EU-weit maximal sieben Jahre lang bestehen.
Ab Mai dürfen also polnische Bürger ohne Genehmigung jede Arbeit in Deutschland ausüben. Das ist auch für Thomas Ambroziak eine gute Nachricht. Seit 17 Jahren leitet er die Sprachschule in Skarzysko. Noch nie war das Interesse an Deutschkursen so groß wie dieses Jahr, sagt Ambroziak. Deshalb bietet die Schule jetzt zum ersten Mal besondere Sprachkurse nur für Erwachsene an.
Besonders gefragt sind die Intensivkurse. Die Kursteilnehmer haben weniger Interesse, Grammatik zu lernen, "Sie fragen nach Konversationskursen, wo sie schnell sprechen lernen. Sie wollen sich verständigen, um im Ausland arbeiten zu können", erklärt der Sprachschulleiter.
Handwerker und Pflegekräfte zieht es nach Deutschland
Nach Schätzungen werden pro Jahr 100.000 bis 400.000 Polen nach Deutschland auswandern. Katarzyna Gmaj vom Zentrum für Internationale Beziehungen in Warschau befürchtet allerdings, es könnten noch mehr werden. Deutschland sei schon immer ein bevorzugtes Ziel polnischer Arbeitsemigranten gewesen.
In Deutschland leben und arbeiten bereits viele Polen, schätzungsweise rund eine halbe Millionen, teils legal und teils illegal. Deshalb werden die Polen bei der Jobsuche von Bekannten, Verwandten oder ihrer Familie unterstützt. Dadurch fällt die Entscheidung für Deutschland leichter. Die Migrationsexpertin Gmaj vermutet allerdings, dass es weniger Akademiker sein werden, die auswandern, sondern vor allem Handwerker und Pflegekräfte.
Fachkräftemangel in Polen
Ein Schreckensszenario für die heimische Wirtschaft. Bereits heute mangelt es in Polen vor allem an Pflegekräften, Handwerkern, Saisonarbeitern und Medizinern. Diese Lücken versucht man inzwischen mit Fachkräften aus der Ukraine oder Weißrussland zu füllen. Dennoch reagiert die polnische Regierung auf den Auswanderungstrend nach Deutschland gelassen. Sie sagt, es seien keine negativen Konsequenzen für die polnische Wirtschaft zu erwarten, ärgert sich die Migrationsexpertin Gmaj. "Dabei wissen wir doch schon heute, dass es bei uns in 20 Jahren branchenübergreifend an Arbeitskräften mangeln wird."
Während Agnieszka Witkowska für immer ihre Heimat verlassen wird, möchte Bartek Grundniewski nur Erfahrung in Deutschland sammeln. Deutschland sei doch technisch besser entwickelt als Polen, meint er. "Wenn ich genug Geld verdiene und genug Erfahrung gesammelt habe, komme ich nach Polen zurück und gründe eine eigene IT-Firma".
Autorin: Justyna Bronska
Redaktion: Fabian Schmidt