Kanzlerin Merkel: Zum Abschied eine Rose
2. Dezember 2021Es ist ein kalter, trockener Dezemberabend in Berlin. Als Angela Merkel das Wort ergreift, sieht man den Atemhauch. Die 67-Jährige spricht von Dankbarkeit und Demut.
Ein strenges Zeremoniell im Fackelschein - mit dem "Großen Zapfenstreich" als höchsten militärischen Ehren verabschiedet sich die Bundeswehr von Bundeskanzlerin Merkel, im Programmheft steht "Dr. Angela Dorothea Merkel". Da Deutschland keine offizielle Verabschiedung eines Regierungschefs kennt, gerät die Feier fast zum Abschied des Landes von dieser Kanzlerin. Gut 1500-mal hat sie als Kanzlerin offizielle Ansprachen vorgetragen. Vermutlich ist diese Rede, die 1509., ihre letzte als Bundeskanzlerin.
Und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, an die 50 Ministerinnen und Minister aus ihren vier Bundeskabinetten von 2005 bis 2021, ihr designierter Nachfolger Olaf Scholz, die meisten Spitzen der Parteien sowie einige persönliche Gäste hören zu.
Dank
Es sind nur sieben Minuten. Aber es wird eine grundsätzliche, ernste, dankbare, mahnende Rede. Zuerst widmet sich Merkel dem Thema Corona. "Ich möchte allen danken, die sich der Pandemie mit aller Kraft entgegenstellen", sagt sie und erwähnt Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte, aber auch "helfende Hände in den Hilfsorganisationen und der Bundeswehr".
Und dann ruft sie zur Verteidigung der Demokratie gegen Hass, Gewalt und Falschinformationen auf, kritisiert all jene, "die wissenschaftliche Erkenntnisse leugnen und Hetze verbreiten". "Unsere Demokratie lebt auch davon, dass überall da, wo Hass und Gewalt als legitimes Mittel zur Durchsetzung eigener Interessen erachtet werden, unsere Toleranz als Demokratinnen und Demokraten ihre Grenze finden muss."
"Fröhlichkeit im Herzen"
Sie nennt große Themen - neben der Pandemie vor allem Klimawandel, Digitalisierung und Konflikte - und mahnt die ernste Auseinandersetzung, Ausgleich und steten Respekt an. Und tatsächlich endet sie, die Ernste und Gewissenhafte, nach Dank an Wegbegleiter und Familie mit der Ermunterung zu "Fröhlichkeit im Herzen" und erinnert dabei ausdrücklich an ihr Leben in der DDR. Sie bringt die Wendung ein zweites Mal. "Es ist diese Fröhlichkeit im Herzen, die ich uns allen und im übertragenen Sinne unserem Land auch für die Zukunft wünsche."
Angela Merkel ist erst die dritte, die als Bundeskanzler oder Bundeskanzlerin mit einem solchen Zeremoniell geehrt wird. Helmut Kohl, Bundeskanzler von 1982 bis 1998, der im Oktober 1998 als erster den "Zapfenstreich" bekam, wählte für diesen Anlass die Kulisse des Kaiserdoms in Speyer, dem er Zeit seines Lebens sehr verbunden war. Für Gerhard Schröder, Kanzler von 1998 bis 2005, zog die Bundeswehr vor dem Rathaus von Hannover auf, seiner Heimatstadt. Merkel ist die erste Kanzlerin, die in Berlin verabschiedet wird. Im Bendler-Block des Verteidigungsministeriums. Auch so ein Berliner Ort voller Geschichte. Einige Schritte weiter wurden 1944 Verschwörer gegen Adolf Hitler standrechtlich erschossen. Und als Merkel später beim musikalischen Abschied dem Stabsmusikkorps gegenübersteht, fällt ihr Blick direkt dahinter auf das Ehrenmal der Bundeswehr, die zentrale Gedenkstätte für die bislang über 3300 Toten der Bundeswehr. Ein Ort des Gedenkens, 2009 eingeweiht - unter Kanzlerin Merkel.
Rede und Feuerwerk
Dem Großen Zapfenstreich, einer festgefügten und in der Bundeswehr nicht seltenen Zeremonie, ist bei den Kanzlern ein militärischer Appell vorgeschaltet, um dem jeweiligen Regierungschef die Möglichkeit zu einer Rede zu geben. Kohl nutzte das 1998 und sprach 13 Minuten. Schröder verzichtete 2005 auf die Möglichkeit zur Rede und ließ sich nur verabschieden. Nun Merkel. Während der Rede kein Beifall, keine Unterbrechung.
Seit dem Umzug von Regierung und Parlament von Bonn nach Berlin im Jahr 1999 bleibt bei manchem Zapfenstreich auch die Musik in Erinnerung. Denn vor dem eigentlichen Zapfenstreich gibt es Musik zu Ehren und nach Wunsch des Geehrten. Da dominiert nicht immer Marschmusik. Schröder hörte 2005 unter anderem Frank Sinatras "My Way", dargeboten von einem Solotrompeter. Bundespräsident Horst Köhler wünschte sich 2010 Jazz, Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg 2011 "Smoke on the Water" von Deep Purple, seine Amtskollegin Ursula von der Leyen "Wind of Change" der Scorpions. Weltmusik zum nationalen Abschied.
Punkig, beschwingt, fromm
Merkel bleibt deutschsprachig. Vor dem großen Kirchenlied "Großer Gott, wir loben dich", das in Deutschland sowohl Katholiken als auch Protestanten singen, gibt es zwei Lieder von großen Sängerinnen der Nachkriegszeit, die für viele Menschen im Land einen ikonischen Klang haben. Nina Hagens "Du hast den Farbfilm vergessen" von 1974 war Kult in der DDR. Hildegard Knefs "Für mich soll's rote Rosen regnen" von 1968 kennt jeder in Westdeutschland. Punkig-keck das erste, beschwingt das zweite, tragend-fromm das dritte, der Choral. Mit der ersten Musik löst sich Merkels Gesicht, manchmal scheint sie in sich hineinzulächeln.
Der eigentliche Zapfenstreich ist im Grunde eine religiös anmutende staatliche Zeremonie von gut 20-minütiger Dauer, streng geregelt. Die Anfänge liegen im 16. Jahrhundert. In der preußischen Zeit des 19. Jahrhunderts wurde daraus die bis heute geltende feste Form - samt des Liedes "Ich bete an die Macht der Liebe" des Mystikers Gerhard Tersteegen (1697 bis 1769), das durchaus umstritten ist. Merkel setzt sich kurz, noch während das Musikkorps das musikalische Gebet spielt. Dann, sie steht wieder auf, die Nationalhymne. Mit ihr endet der Zapfenstreich.
Endlich Beifall. Und wieder Trommelwirbel. Zum Auszug der Soldatinnen und Soldaten. Deutschland hat sich von Angela Merkel verabschiedet.
Noch steht sie da, ihr Mann Joachim Sauer kommt hinzu. Die Wagenkolonne fährt vor. Aus einem großen Strauß roter Rosen nimmt Merkel zwei heraus. Eine Rose reicht sie ihrer Verteidigungsministerin, mit der anderen steigt sie ins Auto. Sie winkt. Und hinaus geht die Fahrt in die kalte Berliner Nacht.