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Heroin auf Rezept

27. Februar 2012

Seit zehn Jahren behandelt eine Bonner Ambulanz Drogensüchtige - mit synthetisch hergestelltem Heroin. Dieses umstrittene Projekt gibt es in sieben deutschen Städten. Die Erfolgsquote ist nicht einfach messbar.

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Drogenszene im Frankfurter Bahnhofsviertel am 12.01.1993. Fixer bei der Heroin-Injektion. Foto: Karin Hill +++(c) dpa - Report+++
Bild: picture-alliance/dpa

Samstagmorgen, kurz nach acht. Noch ist es leicht, in der Innenstadt einen Parkplatz zu finden, und nur die Bäcker am Berliner Platz haben schon geöffnet. Die Diamorphinambulanz Bonn liegt mitten im Stadtzentrum, nahe dem Theater. Etwa zwanzig Menschen stehen im Empfangsraum, Frauen und Männer zwischen dreißig und fünfzig Jahren, deren genaues Alter sich schwer schätzen lässt. Alle sind durch Krankheiten früh gealtert, durch Hepatitis oder Depressionen - und durch die jahrelange Heroinsucht.

Medikament statt Partydroge

Etwa 1.000 Drogenabhängige gibt es in Bonn, schätzen die Verantwortlichen der Suchthilfe. Das Einzugsgebiet ist groß, nicht zuletzt durch die Nähe zur viertgrößten deutschen Stadt Köln. Wer zu ihnen kommt - dreimal täglich, jeden Tag - hat immer eine lange Suchtkarriere hinter sich. Er oder sie ist über 23 Jahre alt, seit mindestens fünf Jahren abhängig, hat mehrere Entzugsprogramme abgebrochen - so lauten die Voraussetzungen für die ambulante Diamorphin-Behandlung, also für eine "Therapie" mit synthetisch hergestelltem Heroin.

Spritzbesteck Foto: Johanna Schmeller (DW)
Jeder Patient erhält ein frisches SpritzbesteckBild: Johanna Schmeller

Bonn war eine der ersten sieben deutschen Städte, die vor genau zehn Jahren, am 27. Februar 2002, im Rahmen einer Studie eine "Heroinambulanz" gründeten. Immer 50 Patienten werden seither hier aufgenommen und intensiv betreut. Neben Bonn haben sich Frankfurt, München und vier weitere deutsche Großstädte an der medizinischen Studie beteiligt. Ausgerechnet die Drogenhauptstadt Berlin nahm allerdings nicht teil - hier fehlte das Geld. "Diamorphin-Ambulanzen sind sehr teuer", erläutert die Leiterin des Bonner Zentrums Linde Wüllenweber, "jede neue kostet zunächst 600.000 Euro." Den überwiegenden Teil dieser Summe trugen zunächst die Kommunen. Seit 2011 übernimmt die Krankenkasse die Kosten für das Diamorphin.

Von der Spaßdroge zum Medikament

Etwa 150 Patienten hat der Arzt Christoph Dilg in den vergangenen zehn Jahren begleitet. "Für unsere Patienten ist auch wichtig, dass das Heroin den Ruf einer Spaß- und Partydroge verliert", meint er. Durch die Abgabe unter ärztlicher Aufsicht wird so aus einer Droge eine Art Medikament. Für manche mache das den Einstieg in den Ausstieg leichter, also die Integration in weiterführende Therapiemaßnahmen, etwa in ein Methadonprogramm. "Medizinisch ist Methadon vorzuziehen, weil es einen konstanteren Spiegel erhält, nicht so schnell zu Entzug führt", so Dilg. "Einige unserer Patienten sind morgens schon sehr nervös, die Nacht ist ja auch lang." Die stünden dann schon eine halbe Stunde zu früh vor dem Eingang der Drogenambulanz und warteten.

Christoph Dilg in den Räumen der Bonner Drogenambulanz Foto: Johanna Schmeller (DW)
Christoph Dilg betreut die Abhängigen in der AmbulanzBild: Johanna Schmeller

Beim Eintreffen nimmt sich dann jeder zunächst ein Röhrchen mit einem bunten Namensetikett vom Fenstersims und pustet: ein Alkoholtest. Für die Wartenden gibt es Kaffee aus Plastikbechern.

Jene, die noch auf "ihr" Heroin warten, sind unruhig. In einer Schlange stehen sie vor einem verglasten Raum, in dem immer vier Patienten gleichzeitig ihre Stichwunden hygienisch versorgen. Durch eine Durchreiche werden ihnen Stoff und frisches Spritzbesteck zugeteilt. Wer kann, setzt sich an einen Tisch und sticht in die Armbeuge. Dann mischen sich einige Blutstropfen in den Spritzen mit der klarsichtigen Substanz, und erst danach entspannen sich die Gesichter. Ein paar Worte werden mit dem Nachbarn gewechselt, ein Mann desinfiziert sich im Zeitlupentempo die Hände, endlos, ritualisiert. Nach einigen Minuten wird er freundlich durch einen Lautsprecher ermahnt, doch dem Nächsten Platz zu machen. Eine Frau schließt sich im Hinauskommen die Hose: Ihre Armvenen sind bereits zu schlecht. Ein anderer hat blaue Stichwunden am Hals. Wer in die Beine spritzt, wird gebeten, auf einem Holzstuhl hinter einem Vorhang Platz zu nehmen. "Das natürliche Schamgefühl geht mit der Droge verloren", so Dilg, "und auch daran müssen wir hier arbeiten. Viele würden sich einfach öffentlich in die Beine stechen."

Alle sind sehr blass, manche setzen sich nach dem Schuss noch ein paar Minuten in den Aufenthaltsraum, reden miteinander - über den letzten, missglückten Friseurtermin zum Beispiel. "Nach der Behandlung sind unsere Patienten benommen", sagt Dilg, "am augenfälligsten sind wohl die hängenden Augenlider." Wer einschläft, bekommt das nächste Mal eine schwächere Dosis.

Neue Rituale schaffen

Viele gehen auch direkt nach draußen. Heroin und Zigaretten, ein untrennbares "Ritual", sagt Christoph Dilg. Rituale sind wichtig, bei der Suchterhaltung genauso wie bei der -bekämpfung. Wer es schafft, auf Methadon umzusteigen, ist einen guten Schritt weiter - weil der Ritus des Spritzens immerhin nicht mehr Teil des Tagesablaufs ist. Wer einen Job hat, jeden Morgen pünktlich zur Arbeit erscheint, hat einen großen Sprung gemacht. "Regelmäßig arbeiten gehen, das ist für Süchtige ein Riesending", sagt Linde Wüllenweber, "dem muss man sich in ganz, ganz kleinen Mini-Schritten nähern."

Linde Wüllenweber Linde Wüllenweber in den Räumen der Bonner Drogenambulanz Foto: Johanna Schmeller (DW)
Linde Wüllenweber, verwantwortlich für psychosoziale BetreuungBild: Johanna Schmeller

Einrichtungsleiterin und Arzt schildern Fälle, in denen genau das gelungen ist: die äußeren Lebensbedingungen so zu stabilisieren, dass ein Leben ohne die Droge erst vorstellbar, dann lebbar wird. Manchmal entwickeln sich dann sogar spätere Freundschaften zwischen Betreuer und Patient. Doch auch aus der Tatsache, dass sie von vielen Abhängigen einfach nie wieder etwas hören, machen sie keinen Hehl.

Therapieerfolg: Menschenwürde

Gerade in CDU-regierten Ländern hatte es im Vorfeld des Pilotprojektes heftige ethische Bedenken und politische Auseinandersetzungen gegeben. Heute, zehn Jahre später, ist nahezu unbestritten, dass der regelmäßige Besuch der Diamorphinambulanz, die in Kooperation mit dem Caritasverband und dem Diakonischen Werk betrieben wird, eine Verbesserung der Lebensbedingungen aller Patienten darstellt. Im Unterschied zum Druckraum, wie es ihn in jeder großen Stadt gibt, bekommen sie hier unter hygienischen Bedingungen einen medizinisch reinen Stoff - sodass zumindest die schweren, nicht selten sogar tödlichen Begleiterkrankungen der Sucht vermieden werden können. Bei einer Evaluierung der Arbeit aller Drogenambulanzen im Jahr 2006 zeigte sich, dass sich der Allgemeinzustand von 80 Prozent der Teilnehmer stärker bessert als durch eine Methadonbehandlung. Und manchmal gelingt Christoph Dilg und seinen Kollegen sogar das, was im Kampf gegen die Schwerstabhängigkeit die vielleicht größte Hürde darstellt: das Bewusstsein für die eigene Würde wieder zu erwecken.

Eingang der Ambulanten Suchthilfe, Annagraben 70 in Bonn Foto: Johanna Schmeller (DW)
Unauffällig: Der Eingang zur Diamorphinambulanz in BonnBild: Johanna Schmeller

Autorin: Johanna Schmeller
Redaktion: Andrea Lueg