Zehntausende für ein solidarisches Europa
19. Mai 2019Das Plakat mutet für deutsche Augen exotisch an: "Eoraip do chách" steht darauf. Das ist Irisch und nur eines von vielen Bannern in Sprachen, die trotz Jahrzehnten des europäischen Zusammenwachsens längst nicht jedem geläufig sind. Sie stehen für das Motto dieser Demonstration eine Woche vor den Wahlen zum Europäischen Parlament: "Ein Europa für alle - Deine Stimme gegen Nationalismus."
Europa für alle, Europa überall, auch an den Rändern der Europäischen Union. "Wir sind für gemeinsame soziale Normen in Europa", erklärt ein junges Paar, das ebenfalls ein Plakat dabei hat, dieses Mal auf Türkisch. "Es ist wichtig, dass überall auf dem Kontinent die gleichen sozialen Standards herrschen." Nur das halte den Kontinent zusammen.
Die Kölner Kundgebung ist nur eine von vielen Demonstrationen, die an diesem Sonntag in über 50 europäischen Städten stattfinden, quer über den gesamten Kontinent, von Schweden bis nach Italien, von Großbritannien bis nach Bulgarien. Die Veranstalter zählen allein in Köln 45.000 Menschen, in ganz Deutschland sollen es 150.000 Teilnehmer sein, die Polizei geht von weniger aus. Mehr als 70 Organisationen und Verbände haben zu den Kundgebungen aufgerufen.
Kreativ und individuell
Die Anliegen sind vielfältig, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bunt zusammengewürfelt. Das sei neu an einer Demonstration wie dieser, sagt Mitveranstalter Uwe Hiksch vom Marxistischen Forum der Links-Partei. "Früher waren solche Demonstrationen recht einheitlich. Die meisten Teilnehmer trugen vorgefertigte Plakate - heute machen sie die selbst. Die Menschen sind in den vergangenen Jahren sehr kreativ geworden."
Ein sehr individualistisches Beispiel ist das Schild mit der minimalistischen Aufschrift: "Weniger". Der aus Köln stammende Demonstrant erklärt sein Anliegen so: "Wir müssen lernen, uns in Zukunft mit weniger Konsum zu begnügen. Derzeit stellen wir auf alternative Energien um, etwa bei den Autos. Aber das reicht nicht. Wir müssen auch weniger fahren. Wir müssen generell lernen, uns zurückzuhalten."
Neben umweltpolitischen Anliegen und Klimaschutz sind zentrale Motive natürlich europäische Einheit und Solidarität sowie ein Nein zu Ausgrenzung, Abschottung und Rassismus. Dafür stehen auch drei junge Frauen mit ihren selbstgemachten Plakaten. "Wir wollen Werbung machen für ein vereintes und gerechtes Europa. Daran müssen wir immer wieder erinnern."
Auch die außenpolitische Rolle der EU ist ein Thema. Europa dürfe sich nicht abschotten, fordert ein Teilnehmer. Migration dämme man nicht nur mit hochgesicherten Außengrenzen ein, sondern durch eine faire Handelspolitik und engagierten Klimaschutz. Ein paar Schritte weiter fordert Patrick Schwalger: "Rettet das Friedensprojekt Europa". Die gleichnamige Gruppe setzt sich dafür ein, dass die EU sich nicht zur Militärmacht entwickelt. "Dieses Projekt halte ich für ganz wesentlich", sagt Schwalger, "damit die EU ihre friedenspolitische Identität erhält."
Straches Rücktritt erntet Applaus
Die Stimmung ist entspannt bei der Kölner Demonstration. Das mag auch an den Ereignissen des Vortags liegen, dem Rücktritt des österreichischen Vizekanzlers Heinz-Christian Strache, nachdem ein kompromittierendes Video ihn bei geheimen Absprachen mit einer vermeintlichen reichen Russin gezeigt hatte. "Wir sind gegen sämtliche Nationalisten, die in Europa an der Regierung sind", betont einer der Redner. "Und es ist wunderbar, dass einer von ihnen gestern von der Bildfläche verschwunden ist."
Den Rücktritt Straches quittieren die meisten Demonstranten mit Applaus. Andere Themen scheinen kontroverser, gemessen am Beifall für die Redebeiträge. Nicht alle Teilnehmer finden, dass mit der russischen Regierung eine vertrauenswürdige politische Partnerschaft möglich sei. Und nicht alle möchten, dass Europa darauf verzichtet, eine geopolitisch gestaltende Rolle zu spielen.
Für eine bessere EU
Dennoch herrschte große Einigkeit in der Sorge um die Europäische Union. Dafür fanden sich nicht nur in Köln ganz unterschiedliche Gruppen zusammen: Umweltschützer, Pazifisten, Sozialdemokraten und Sozialisten, Organisationen, die sich für mehr Transparenz und Volksentscheide stark machten.
"Was ist Heimat", fragte auf der großen Bühne der Kölner Kabarettist Jürgen Becker. "Heimat ist der Ort, den man liebt, auch wenn er eine totale Katastrophe ist." Europa, so darf man aus der guten Stimmung am Rheinufer schließen, ist zwar längt keine Katastrophe. Aber verbessern lässt sich die Europäische Union allemal.