"Ich kämpfe gegen die Diktatur in Russland"
27. Mai 2015Deutsche Welle: Frau Nemzowa, Sie gelten als Geschädigte im Mordfall ihres Vaters und können Einsicht in die Ermittlungsakten nehmen. Bekanntlich haben Sie Schweigepflicht. Aber gibt es da überhaupt noch etwas, was Journalisten nicht bekannt ist?
Zhanna Nemzowa: Es ist nicht alles so einfach, wie Sie denken. Der ehemalige Ermittler Igor Krasnow hatte mir tatsächlich versprochen, mich mit dem gesamten Material des Falles vertraut zu machen, einschließlich des Videomaterials. Aber jetzt wurde Krasnow durch Nikolaj Tutewitsch ersetzt. Ich habe ihn vergangenen Freitag, am 22 Mai, getroffen. Das Treffen war nicht konstruktiv, ich bin enttäuscht. Er wollte mir keine Einsicht in das gesamte Material des Falls gewähren. Er versprach, einzelne Teile zu zeigen. Er schlug mir vor, am Dienstag zu kommen. Als ich sagte, dass ich an diesem Tag in Berlin sein werde, sagte Tutewitsch, dass man mich vielleicht nicht aus dem Land lassen werde. Das sollte ein Witz sein.
Gegenüber Journalisten sagen Sie, die politische Verantwortung für den Mord an Boris Nemzow läge bei der russischen Regierung und Präsident Wladimir Putin persönlich. Was meinen Sie damit?
Erstens: In Russland wurde der bekannteste Vertreter der Opposition und Putin-Kritiker getötet. Zweitens: Wir sehen, wie mühsam die Ermittlungen sind. Nicht nur ich, auch viele andere haben berechtigte Zweifel, dass diese Ermittlungen normal verlaufen werden. Dazu bedarf es eines politischen Willens, und diesen gibt es nicht. Darüber hinaus gibt es einige weniger bedeutsame Dinge, die indirekt auf eine politische Verantwortung hindeuten. Beispielsweise wurde nach der Ermordung meines Vaters im russischen Staatsfernsehen eine weitere schmutzige Sendung über ihn gezeigt, weil zum Trauermarsch mehr als 50.000 Menschen kamen, manche gehen sogar von 100.000 aus. Eine Gedenktafel am Tatort wurde nicht erlaubt, auch kein Gedenkkonzert. Deswegen organisierten wir einen TV-Marathon bei "Doschd". Ich danke dem Sender dafür.
Nach dem Mord wurden Verdächtige festgenommen, die aus dem Nordkaukasus stammen. Glauben Sie, dass der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow für Klarheit in diesem Fall sorgen könnte, wenn man ihn fragen, oder eher gesagt, vernehmen würde?
Ein entsprechendes Gesuch zur Vernehmung Kadyrows gab es, aber es wurde abgelehnt. Ich denke, es wäre sinnvoll ihn zu vernehmen. Er sagte selbst, er habe keine Einwände gegen eine Vernehmung.
Manche meinen, dass der Kreml, gelinde gesagt, mit Kadyrow nicht sehr zufrieden ist, ihn aber als das geringere Übel ertragen muss. Denn wenn man den Präsidenten von Tschetschenien antasten würde, würde es dort wieder Krieg geben.
Ich glaube, dass diese Meinung nicht unbegründet ist. Aber ich kann die Beziehungen innerhalb der Staatsmacht schlecht beurteilen. Innerhalb herrschender Eliten gibt es immer Meinungsverschiedenheiten, aber das bedeutet nicht, dass die Macht des Präsidenten gefährdet ist. Aber das, was Sie gesagt haben, kann einer der Gründe dafür sein, was derzeit geschieht.
Ihr Vater wurde einmal gefragt, ob sich seine Ansichten in den vergangenen 20 Jahren verändert hätten. Er sagte nein. Und bei Ihnen? Noch vor verhältnismäßig kurzer Zeit, im Jahr 2009, hatten Sie sich ziemlich positiv über Putin geäußert.
Lassen Sie uns Ansichten und Haltung nicht verwechseln. Ansichten können gleich bleiben, aber die Haltung zu Menschen kann sich ändern. Erst haben sie eine positive Haltung zu einem Menschen. Der aber geht falsch vor und verrät sie. Dann ändern sie doch ihre Haltung zu ihm, aber nicht ihre Ansichten. Meine Ansichten haben sich nicht geändert. Ich war immer gegen Diktatur. Ich habe das wohl im Blut. Ich möchte kein unfreies Land, denn in ihm lebt es sich unbequem. In unfreien Ländern gibt es keine Aussichten auf eine umfassende menschliche Entwicklung. Da sehe ich nur geistigen Abbau, sonst nichts. Kaum jemand konnte sich vorstellen, dass alles auf diese Weise enden wird. Selbst mein Vater, trotz seiner großen politischen Erfahrung, konnte sich nicht vorstellen, dass sich alles so umdreht. Übrigens habe ich nie für Putin gestimmt. Und ich war von Anfang an gegen die Annexion der Krim und gegen den Krieg in der Ukraine.
"Geistiger Abbau", "unbequemes Leben", "keine Aussichten". Dennoch bleiben Sie in Russland. Was hält Sie dort?
Warum sollte ich mein Land verlassen? Ich bin russische Staatsbürgerin und liebe Russland. Russland ist nicht nur Putin. Dazwischen kann man kein Gleichheitszeichen setzen. Russland ist meine Heimat und jeder normale Mensch will in seiner Heimat leben. Es hält mich meine Familie, mein soziales Umfeld und meine Arbeit, die ich interessant finde.
Beim TV-Sender RBK moderieren Sie ein Wirtschaftsmagazin. Sie sind Expertin für Aktienmärkte und Wechselkurse. Kann sich in einer Diktatur, in die sich Ihrer Meinung nach Russland bereits verwandelt hat, die Wirtschaft frei entwickeln?
Natürlich nicht. In Russland ist die gesamte Wirtschaft staatlich. In der Welt gibt es Beispiele, sagen wir mal Singapur, wo sich die Wirtschaft unter einer Diktatur entwickelt. Aber in solchen Fällen hängt sehr viel vom Diktator, von seiner Persönlichkeit ab. Es kann gut, aber auch schief gehen. Gerade deswegen braucht man demokratische Institutionen. Deshalb sind die führenden Wirtschaftsnationen der Welt Demokratien. In der jetzigen politischen Situation, wo gegen Russland Sanktionen bestehen, kann man nur schwer von einer Wirtschaftsentwicklung sprechen. Nach der Krise, die sich erst entfaltet - die Zahlen im April waren schrecklich - wird meiner Meinung nach eine lange Zeit der Stagnation oder nur ein sehr begrenztes Wachstum folgen.
Bekanntlich sind die führenden russischen Fernsehsender unter strenger staatlicher Kontrolle. Wie frei sind Sie in Ihrer Arbeit beim privaten Kanal RBK?
Bei Wirtschaftsthemen gibt es noch eine gewisse Freiheit. In meinen Wirtschafts-Kommentaren bin ich frei. Politik kommentiere ich bei RBK nicht. RBK will mich nicht als politischen Kommentator sehen. Aber als mein Vater getötet wurde, war das für mich ein so großer Verlust, dass ich außerhalb der Wände des Senders nicht schweigen werde, nur um bei RBK zu bleiben. Ich möchte, dass die Menschen wissen, was geschieht. Ich möchte die Erinnerung an meinen Vater wachhalten. Ich möchte die Menschen unterstützen, die für Freiheit in Russland kämpfen.
Das Gespräch führte Nikita Jolkver
Zhanna Nemzowa ist die Tochter des Ende Februar in Moskau ermordeten Oppositionspolitikers und Putin-Kritikers Boris Nemzow. Sie hält sich auf Einladung der Friedrich-Naumann-Stiftung in Berlin auf.