Was den Südosten der Ukraine erwartet
30. September 2022"Für mich sind nicht Grenzen und Staatsterritorien wichtig, sondern das Schicksal der Menschen." Dies ist ein Zitat des russischen Präsidenten Wladimir Putin aus einem Interview mit der deutschen Zeitung "Bild" im Januar 2016. Damals ging es um die annektierte Krim. In diesen Tagen verändert der Kremlchef erneut gewaltsam die Grenzen der Ukraine und annektiert Teile der Regionen Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja. Der sechsmonatigen Besatzung soll nun die Aufnahme der Gebiete in die Russische Föderation folgen.
Moskau droht, alle Arten von Waffen einzusetzen, einschließlich Atomwaffen, um die neuen Landesteile zu schützen. Die Ukraine und die meisten Länder der Welt haben erklärt, dass sie weder die Annexion selbst noch die ihr vorangegangenen "Referenden" anerkennen, bei denen angeblich eine Mehrheit "dafür" gestimmt hat. Wer sind diese Millionen Ukrainer, die jenseits der Front leben, und was wird sich für sie ändern?
Worin unterscheidet sich die Stimmung in Donezk und Cherson?
Die genaue Zahl der Menschen, die zum Zeitpunkt der Annexion in den besetzten Gebieten lebten, ist unbekannt. Es geht jedenfalls um mehrere Millionen. Obwohl die Annexion gleichzeitig erfolgt, sind die Regionen sehr unterschiedlich. Im Donbass fand seit 2014 eine erzwungene Selektion statt: Hunderttausende, meist junge Menschen, verließen die selbsternannten "Republiken", zogen nach Russland oder in den von Kiew kontrollierten Teil der Ukraine. Geblieben sind alte Menschen und solche, die nicht weg konnten oder den Separatismus unterstützen.
"Für einige wird in Erfüllung gehen, was sie schon immer wollten. Es gibt immer bestimmte Anteile der Bevölkerung, die kollaborieren", sagt Andreas Umland, Experte am Stockholm Centre for Eastern European Studies (SCEEUS). Es scheint, dass es im Osten mehr von ihnen gibt als im Süden der Ukraine, aber es gibt darüber keine genauen Daten. Manche im Donbass hätten die Annexion unterstützt, teilweise aus der Angst heraus, sich nach einer Rückkehr der ukrainischen Staatsmacht vor Gericht verantworten zu müssen, meint Serhij Harmasch. Der gebürtige Donezker ist Chefredakteur der Online-Zeitung "Ostrow" und war Mitglied der Trilateralen Kontaktgruppe für die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen. "Solche Leute werden sagen, sie hätten mit 'Ja' gestimmt, denn wenn die Ukraine zurückkommt, müssen sie ja irgendwohin fliehen, wohl nach Russland", sagt Harmasch. Wie viele solcher Menschen es gibt, weiß niemand.
Wie schon in den besetzten Gebieten des Donbass ist es auch im Süden der Ukraine und in Teilen der Regionen Cherson und Saporischschja in den sechs Monaten der Annexion zu gesellschaftlichen Veränderungen gekommen, wenn auch nicht zu so wesentlichen. Hunderttausende sind geflohen, aber unter denen, die geblieben sind, gibt es viele, die weiterhin Kiew unterstützen. Dies zeigen Proteste mit ukrainischen Flaggen, die es in den ersten Wochen und Monaten nach der Invasion gab. "In Cherson und der Region Saporischschja hassen viele Menschen Russland, und in Donezk und Luhansk hat man den Menschen acht Jahre lang die Köpfe mit Propaganda vollgehauen", so Harmasch.
Anders als auf der Krim, wo zum Zeitpunkt der Annexion im Jahr 2014 zwei Drittel ethnische Russen lebten, beträgt ihre Anzahl im Osten und Süden der Ukraine weniger als die Hälfte. Laut der Volkszählung von 2001 lag der Prozentsatz an ethnischen Russen zu Beginn des Krieges im Jahr 2014 in den Gebieten Donezk und Luhansk mit etwa 40 Prozent am höchsten. In den Regionen Saporischschja und Cherson liegt er bei etwa 25 beziehungsweise 15 Prozent.
Finanzielle Unterstützung der annektierten Gebiete
Auf den ersten Blick wird eine formelle Annexion am Leben in diesen Gebieten wenig ändern, die sich seit einem halben Jahr de facto unter Russlands Kontrolle befinden. Die Erfahrungen auf der Krim geben eine Vorstellung davon, wie sich die Ereignisse entwickeln können. Es wird eine Mischung aus einer Peitsche für die Andersdenkenden und Zuckerbrot für die Loyalen sein. Löhne und Renten werden wohl steigen und Russland wird versuchen, die zerstörte Infrastruktur wieder aufzubauen. Der stellvertretende Leiter der Kreml-Administration, Sergej Kirijenko, nannte am 29. September genaue Zahlen. Ihm zufolge sollen 3,3 Milliarden Rubel (rund 58 Millionen Euro) für "Unterstützungsprojekte" in den neuen Gebieten bereitgestellt werden.
Alles, was mit der Ukraine zu tun hat, wird wohl zunehmend durch Russisches ersetzt werden: Gesetze, Währung, Telekommunikationsanbieter, Sprache, Bildung. Eines der Hauptziele ist die Rückkehr zur kulturellen Russifizierung von Regionen, die der Kreml historisch als seine eigenen betrachtet.
Wie wird eine Partisanenbewegung aussehen?
Die Bewohner der annektierten Regionen werden sich wohl entscheiden müssen: Entweder sie akzeptieren die Veränderungen oder widersetzen sich ihnen - unter Lebensgefahr. "Das sind schwierige Entscheidungen. Viele werden verzweifelt sein, weil sie nicht genau einschätzen können, wie es weitergeht", sagt Andreas Umland vom Stockholm Centre for Eastern European Studies. Denn es ist unklar, wie lange Russland bleibt und wie schnell die Ukraine die Gebiete zurückerobern kann. Schon jetzt gibt es Berichte über Repressionen, über Verhaftungen und Folter von Menschen, die mit Kiew sympathisieren. Die Erfahrungen auf der Krim zeigen, dass die Verfolgung Andersdenkender über Jahre andauern kann.
Alle Männer werden vor einer besonderen Prüfung stehen, denn man wird sie wohl als Teil der russischen Armee zum Krieg gegen die Ukraine einberufen. Vielleicht will der Kreml auf diese Weise auch das Risiko einer Partisanenbewegung mindern. Bisher ist sie im Süden mit mehreren Anschlägen auf Personen in Erscheinung getreten, die mit den Besatzern kollaborieren. Serhij Harmasch glaubt aber, dass ukrainische Geheimdienste dahinter stecken. Er rechnet nicht mit einer massenhaften Partisanenbewegung wie auf ukrainischem Boden während des Zweiten Weltkriegs, auch wegen der heutigen technischen Verfolgungsmöglichkeiten. "Partisanentum heute und im Zweiten Weltkrieg sind verschiedene Dinge. Heute gibt es Video- und Telefonüberwachung. Das, was wir sehen, ist die Arbeit organisierter Gruppen, die von Geheimdiensten geführt werden", so Harmasch.
Die Ukrainer im Osten und Süden wird man auf verschiedene Weise austesten, inwieweit sie zu den neuen Machthabern loyal sind, zum Beispiel bei der Verteilung russischer Pässe. So war es auf der Krim und im Donbass, wo dieser Prozess schon vor Jahren begann. Doch es kann auch Unterschiede zum Krim-Szenario geben. So erwarten Beobachter keine großangelegte Umsiedlung aus Russland, wie auf der Krim geschehen. Der Grund sind die anhaltenden Kampfhandlungen. "Es wird auch keine Rückkehr früherer Bewohner von Donezk aus Russland geben, wo sie als Arbeitskräfte eingesetzt werden, zumal es im Donbass keine Arbeitsplätze gibt. Die wichtigsten Unternehmen sind zerstört", sagt Serhij Harmasch. "Die Attraktivität dieser Territorien für Russland wird gering sein. Die Russen werden Angst haben, dass sie wieder weg müssen. Das wird nicht funktionieren", glaubt auch Andreas Umland.
Kommen Janukowitsch und Asarow nach Donezk zurück?
Offen ist die Frage, wer eine neue regionale Staatsmacht bilden kann. Werden lokale Ukrainer die annektierten Gebiete leiten oder von Russland entsandte Beamte? Bisher setzen die russischen Besatzer auf Einheimische, ehemalige Mitglieder der einstigen prorussischen "Partei der Regionen" des im Jahr 2014 nach Russland geflohenen Präsidenten Viktor Janukowitsch.
Wird er selbst, sein Ministerpräsident Mykola Asarow und werden andere geflüchtete Vertreter der damaligen ukrainischen Elite im Donbass jetzt wieder dorthin zurückkehren? Experten schließen dies nicht aus, glauben aber nicht, dass diese Leute an die Macht zurückkehren werden. Inzwischen hätten sich neue Eliten gebildet, die nicht abtreten wollen, glaubt Harmasch. Vielleicht wird die Führung der Regionen von Ukrainern auf Beamte aus Russland übergehen. Eine solche Entwicklung hat die russische Presse bereits beschrieben. Auf einigen Ebenen hat dieser Prozess sogar schon begonnen.