Millionenfacher Vogeltod am Fenster
19. April 2022Divya Anantharaman leuchtet mit ihrer Taschenlampe unter die Holzbänke rund um einen Büroturm in der Nähe der Wall Street. Um diese Zeit gehören die Straßen von New York noch allein den Frühaufstehern. Divya sucht nach den Opfern der gläsernen Wolkenkratzer - nach toten oder verletzten Vögeln. Dass sie ihre wöchentliche Such- und Rettungsaktion zu dieser Unzeit beginnt, ist unerlässlich, sagt die junge Frau. Sobald es hell wird, fegen die Pförtner die Bürgersteige sauber und die Beweise für den Massentod der Vögel wären verloren.
Anantharaman arbeitet ehrenamtlich fürNYC Audubon, eine New Yorker Naturschutzorganisation, die den Vogelschlag, also das Sterben von Vögeln im Zusammenhang mit Fensterkollisionen, dokumentiert. Auf ihrer Route inspiziert sie jede dunkle Ecke, durchsucht sogar Blumenkübel, damit sie ja kein Kollisionsopfer übersieht, das noch gerettet werden könnte. Am Ende ihrer Runde findet sie einen toten Vogel unter einer glänzenden Glasüberführung, die zwei Gebäude miteinander verbindet. Es ist eine Waldschnepfe, vermutet Divya, ein relativ weit verbreiteter Zugvogel mit langem Schnabel. Waldschnepfen ziehen jedes Frühjahr durch New York, nachdem sie die kalten Monate in Alabama und anderen Gebieten der amerikanischen Golfküste verbracht haben.
Der tote Vogel ist noch steif. Das bedeute, dass er erst vor kurzem gestorben sei, sagt Anantharaman. "Die Augen sind noch so klar - es könnte erst vor wenigen Minuten passiert sein." Sie schießt Fotos, schließt feierlich die Augenlider des Tieres und packt den Kadaver in ihren rosafarbenen Rucksack.
Eine Milliarde toter Vögel - und es werden immer mehr
In den USA, wo bisher am meisten zu Vogelkollisionen geforscht wird, sind Gebäude jedes Jahr für den Tod von bis zu einer Milliarde Vögel verantwortlich, wie der Ornithologe Daniel Klem in den 1990er Jahren errechnete. Aber überall auf der Welt sind Glasfenster Todesfallen. "Überall dort, wo Vögel und Glas zusammenkommen, sind die Vögel gefährdet. Sie sehen das verflixte Zeug nicht", sagt Klem. Er betont, dass nicht Wolkenkratzer, sondern niedrige und mittelhohe Gebäude die größte Gefahr darstellen.
Klem, der heute Professor am Muhlenberg College in Pennsylvania ist, hält Fensterkollisionen für eines der größten Probleme beim Vogelschutz. "Was das Bedrohungspotenzial angeht, würde ich den Vogelschlag gleich nach der Lebensraumzerstörung nennen", sagt er. "Das Heimtückische daran ist, dass Fenster wahllos töten. Sie treffen auch die Fittesten einer Population. Wir können es uns nicht leisten, auch nur ein einziges Exemplar zu verlieren, aber erst recht nicht die mit den besten Chancen auf Nachwuchs."
Lichtverschmutzung wird zur tödlichen Gefahr
Allein in New York sterben nach Schätzungen von NYC Audubon jedes Jahr zwischen 90.000 und 230.000 Vögel an Gebäuden. Die Dichte an beleuchteten Gebäuden in der Stadt ist ein gefährliches Hindernis für die geflügelten Reisenden, vor allem während der Zugzeiten im Frühjahr und Herbst.
New York liegt auf einer Zugroute nach Südamerika, wo viele Vögel überwintern. Da sich Vögel an den Sternen orientieren, werden sie in der Nacht vom künstlichen Licht der Stadt angelockt und verlieren die Orientierung. Im Glauben, sie flögen dem Sternenlicht entgegen, landen die Tiere mitten in einer ihnen unbekannten Metropole, in der tödliche Gefahren lauern.
"Das größte Problem ist spiegelndes Glas", erklärt Biologin Kaitlyn Parkins, die ebenfalls bei NYC Audubon aktiv ist. "Vögel können die Spiegelung eines Baumes nicht von einem echten Baum unterscheiden - für sie ist das ein Baum. Sie fliegen darauf zu, können dabei sehr schnell beschleunigen, und sterben in den allermeisten Fällen nach der Kollision mit dem Glas."
Vogelschlag - ein internationales Problem
In den vergangenen Jahren haben sich Naturschutzgruppen und Wissenschaftler des Themas Vogelschlag verstärkt angenommen. Binbin Li leitet eine von zwei Gruppen, die Fensterkollisionen in China dokumentieren. Die Juniorprofessorin für Umweltwissenschaften promovierte an der Duke Kunshan University, einer Kooperation der US-amerikanischen Duke Universität mit der chinesischen Wuhan Universität, wo sie den leitenden Forscher des Vogelkollisionsprojekts der Universität kennenlernte.
"Zuerst dachte ich, das Problem gäbe es nur in den USA - ich konnte mir gar nicht vorstellen, so etwas hier in China anzutreffen", sagt sie. Doch nach ihrer Rückkehr erhielt sie innerhalb eines Monats Berichte über drei tote Vögel auf dem Campus der Universität im chinesischen Jiangsu.
Zusammen mit einer Gruppe von Studenten zählt sie nun die toten Vögel auf dem Campus in Jiangsu. Viele Opfer, so stellt sie fest, werden unter Glasgängen gefunden, genau wie die Waldschnepfe, die Divya Anantharaman in New York entdeckt hat.
Li hat eine landesweite Umfrage gestartet, um sich ein genaueres Bild von dem Problem zu machen. Drei wichtige Zugrouten führen durch China, aber die Daten über Todesfälle entlang dieser Routen sind immer noch begrenzt. "Wir stellten fest, dass Vogelschlag in China nicht hinreichend bekannt ist, nicht einmal im akademischen Bereich", sagt Li.
Einfache Lösung gegen Vogelkollisionen
Damit sie als Doktorandin über Vogelkollisionen forschen durfte, musste Rose Marie Menacho in Costa Rica vor acht Jahren bei ihren Professoren noch Überzeugungsarbeit leisten. "Sie wussten nicht viel über dieses Thema, wussten nicht, dass es ein echtes Problem ist", erinnert sie sich. "Selbst ich war ein wenig schüchtern, wenn ich erzählte, dass ich an diesem Thema arbeite. Ich habe mich ein wenig geschämt, weil ich dachte, es sei nicht so wichtig."
Um das Ausmaß des Problems in den Tropen zu ermessen, arbeitet sie nun mit rund 500 Freiwilligen zusammen. Einige lagern gefiederte Kadaver in ihren Gefriertruhen, andere schicken Berichte und Fotos. "Nicht nur wandernde Arten kollidieren", sagt sie. Ihre Freiwilligen haben auch schon farbenprächtige Quetzale und Tukane geborgen - beides einheimische Arten.
"Kollisionen töten viele Vögel, die bereits mit Verlust von Lebensraum, Klimawandel, Pestiziden und so weiter zu kämpfen haben", warnt der NYC-Audubon-Biologe Parkins. "Dabei ist das Problem so einfach zu lösen - man muss nur die Scheiben austauschen und das Licht ausschalten."
Anhand der gesammelten Daten versuchen Parkins und ihr Team, die Eigentümer von Glasgebäuden in New York zum Handeln zu bewegen. In der Regel muss das Glas gar nicht ausgetauscht werden. Mit einer speziellen Folie kann man die Spiegelung verringern, was außerdem noch Energie spart. Auch Markierungen auf den Scheiben helfen Vögeln, das Gebäude zu erkennen.
Die Stadt New York hat im Januar neue Rechtsvorschriften erlassen und schreibt nun vor, dass in öffentlichen Gebäuden während der Vogelzugsaison die Beleuchtung nachts ausgeschaltet werden muss. Seit vergangenem Jahr müssen Architekten außerdem bei allen neuen Gebäuden vogelfreundliches Material verwenden, etwa Glas mit ultravioletter Beschichtung, die zwar für Vögel, nicht aber für Menschen sichtbar ist. Diese Maßnahmen helfen enorm, sagt Parkins. Nach einer vogelfreundlichen Renovierung des Javits Convention Centers wurden um das Gebäude herum rund 90 Prozent weniger tote Vögel gefunden.
Neue Vorschriften gegen den Vogeltod
Auf dem Bürgersteig vor dem Brookfield Place, einem riesigen Büro- und Einkaufszentrum an der Südspitze Manhattans, inspiziert Rob Coover einen kleinen Vogel. Es ist noch fast dunkel, aber Rob sucht bereits seit einer halben Stunde nach toten Vögeln.
Sorgfältig schaut er hinter einem Stapel Stühle nach, die die Mitarbeiter eines Cafés demnächst auf ihrer Terrasse aufstellen werden. Schon zweimal musste er sich über einen kleinen, steifen Kadaver beugen, um Fotos zu machen. Jetzt holt er wieder Gummihandschuhe und Plastikbeutel aus seinem Rucksack, um eine Leiche zu bergen und zu konservieren.
Einmal hat Coover an nur einem Morgen 27 Vögel gefunden. Eine andere Freiwillige machte im vergangenen Jahr international Schlagzeilen, als sie im September innerhalb von nur einer Stunde 226 leblose Vögel rund um das One World Trade Center auflas.
"Es ist ziemlich deprimierend, all diese Leichen", sagt Coover. Manchmal findet er einen noch lebenden Vogel, dann bringt er das verletzte Tier in eine Vogelauffangstation. Die Kadaver landen in der Regel in seiner Gefriertruhe, bis er Zeit hat, sie zum Hauptsitz der Naturschutzgruppe zu bringen, wo sie gesammelt und teilweise an Museen verteilt werden. "Vor der Pandemie bin ich nach meiner Runde zur Arbeit gegangen und habe sie in den Gefrierschrank im Büro gelegt." Keiner habe das je bemerkt, fügt er hinzu.
In den USA und Kanada sind bereits in mehreren Gemeinden Freiwillige aktiv. Auch die Liste der Kommunalverwaltungen, die Gesetze erlassen haben, um Vögeln vor Glaskollisionen zu schützen wird immer länger. Nach Angaben der gemeinnützigen American Bird Conservancyist das New Yorker Gesetz eines der wirksamsten.
Daniel Klem, der sich seit fast einem halben Jahrhundert mit Vogelkollisionen beschäftigt, ist begeistert. Er sieht endlich das wachsende Bewusstsein, auf das er gehofft hat. "Der Klimawandel ist auch ein sehr ernstes Thema - niemand will davon abzulenken. Aber er ist sehr komplex, und wir werden noch eine Weile brauchen, um die Menschen davon zu überzeugen, verantwortungsvoll zu handeln. Vogelkollisionen könnten wir schon morgen lösen. Das ist nicht kompliziert, wir müssen es nur wollen."
Eine Adaption aus dem Englischen von Johanna Thompson