"Nicht zu viel in Volksabstimmungen hineinlesen"
15. April 2014Deutsche Welle: In Regionen wie Venetien, Katalonien und Schottland gibt es immer stärkere Bestrebungen, sich von der Zentralregierung abzuspalten. Wie kommt das?
Fabian Zuleeg: Es gibt bereits seit Längerem in vielen Regionen Europas Unabhängigkeitsbewegungen. Aber natürlich haben die Wirtschaftskrisen auch dazu geführt, dass es innerhalb der verschiedenen Länder Reibungen gegeben hat, die die Unabhängigkeitsbewegungen verstärkt haben.
Schwächt dieses Phänomen die Macht der EU oder den europäischen Gedanken?
Nein, denn Referenden sind zunächst einmal eine nationale, und keine EU-Angelegenheit. Die Unabhängigkeit bezieht sich auf die Zentralregierung und nicht auf Brüssel. Für solche Länder, die sich abspalten wollen, wäre es außerdem langfristig schwierig, außerhalb der EU zu existieren. Es befinden sich starke Unterstützer der EU unter diesen Unabhängigkeitsbewegungen.
Wie bewerten Sie die Chancen der Volksabstimmungen?
Das schottische Referendum hat sicherlich eine Chance, denn es wurde von der Zentralregierung in London akzeptiert. Das bedeutet, wenn man dort mit "Ja" stimmt - und dafür benötigt man nur eine einfache Mehrheit - dann würde Schottland unabhängig werden. Dann ändert sich auch das Wahlverhalten.
In Italien oder Spanien ist es anders: In Katalonien wird die Referendumsabsicht überhaupt nicht von der Zentralregierung anerkannt, da müsste noch einiges mehr passieren, bevor es zur Unabhängigkeit kommen könnte. Und die Bevölkerung ist sich darüber im Klaren, dass das Ergebnis nicht bindend ist.
Deshalb sollte man nicht zu viel in diese Volksabstimmungen, wie kürzlich in Venetien, hineinlesen, weil man nicht sagen kann, wie sich die Leute tatsächlich entscheiden würden, wenn es ein echtes Referendum mit bindendem Charakter wäre. Mit diesen Abstimmungen will die Bevölkerung lediglich ein Zeichen setzen.
Führen diese separatistischen Bewegungen zurück in die Kleinstaaterei des 19. Jahrhunderts?
Nein. Durch die EU hat sich viel verändert. Viele Funktionen, die früher auf nationaler Ebene waren, wurden jetzt an Europa abgegeben. Die kleinen Staaten innerhalb der EU müssen sich an die europäischen Richtlinien halten und haben dadurch auch mehr Entfaltungsmöglichkeiten. Der Vergleich mit der Kleinstaaterei im 19. Jahrhundert, die eher zu Konflikten geführt hat, ist überholt.
Sollte Brüssel Ihrer Meinung nach etwas unternehmen gegen die Unabhängigkeitsbewegungen?
Ich denke nicht, dass es eine Aufgabe von Brüssel ist, in diese internen Debatten einzugreifen. Die EU kann höchstens auf die Konsequenzen hinweisen, was die Mitgliedschaft angeht.
EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso hat sich klar ausgedrückt: Würde sich Schottland von Großbritannien abspalten, hätte es wenig Chancen auf einen Beitritt in die EU. Welche Konsequenzen drohen den Ländern also?
Ich denke, es kommt darauf an. Für Regionen, die sich mit der Zentralregierung überworfen haben, könnte ein Beitritt tatsächlich schwierig werden. Um die Mitgliedschaft zügig über die Bühne zu bringen, braucht man eine Vereinbarung zwischen der Zentralregierung und der separatistischen Regierung.
Wozu wird so eine Vereinbarung benötigt?
Falls eine Trennung in einem Land erfolgen sollte, wo beide Teile nicht miteinander übereinstimmen, also falls Katalonien aus Spanien austreten sollte - was rechtlich überhaupt nicht möglich ist -, dann wäre es sehr schwierig für so eine Region, ein Teil der Europäischen Union zu werden. Im Fall von Schottland sehe ich das so: Wenn es aus der Sicht der britischen Regierung zu einer glücklichen Vereinbarung kommt, dann ist es gut möglich, dass Schottland ein Mitglied der EU werden könnte.
Außerdem, wieso sollte die EU einem Land, was die Kriterien für einen Beitritt erfüllt, die Mitgliedschaft zu verweigern? Das würde nicht mit dem Gedanken der europäischen Einigung übereinstimmen.
Fabian Zuleeg ist Chief Executive beim European Policy Centre, einem Think Tank in Brüssel, der die europäische Integration fördern will.