Zurück auf Los in der Wirtschaftspolitik?
29. September 2016Sie gehören zur Crème de la Crème der Wirtschaftswissenschaften: Dr. Ferdinand Fichtner vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, Prof. Dr. Roland Döhrn vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) in Essen, Prof. Dr. Oliver Holtemöller vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung (IWH) in Halle, Prof. Dr. Stefan Kooths vom Institut für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel, Prof. Dr. Timo Wollmershäuser vom ifo Institut München und Dr. Stefan Ederer vom österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO) in Wien.
Zweimal pro Jahr beugen sich die Wissenschaftler über den Patienten Deutschland und erstellen eine ökonomische Diagnose. 1,9 Prozent Wirtschaftswachstum, so lautet sie in diesem Herbst, das ist ein wenig mehr, als noch im Frühjahr vorausgesagt wurde. 2017 soll das Wachstum bei 1,4 Prozent liegen, 2018 bei 1,6 Prozent. Grund zum Jubeln geben diese Zahlen nicht, das wissen auch die Wissenschaftler. Von einem "moderaten Aufschwung" spricht Ferdinand Fichtner vom DIW, obwohl er der deutschen Wirtschaft attestiert, sie sei "leicht überausgelastet".
Industrie vergleichsweise schwach
Tatsächlich gibt es immer mehr Jobs, fast eine halbe Million neue Stellen sollen zu erwarten sein. Die Arbeitslosigkeit ist auf einem historischen Tief von rund sechs Prozent und, da soll sie in den kommenden zwei Jahren trotz der gestiegenen Flüchtlingszahlen auch bleiben. Doch es ist nicht die Industrie, die das Wachstum in Deutschland antreibt. Getragen wird der Aufschwung vor allem durch den privaten Konsum, durch die Bauwirtschaft und den Dienstleistungssektor. Die gestiegenen Löhne und die niedrige Preissteigerung halten die Bürger in Kauflaune. Doch auch der Staat gibt reichlich Geld aus, um Flüchtlinge unterzubringen, zu versorgen und zu integrieren.
Weil die Industrie unterdurchschnittlich wächst, investiert sie nur wenig in neue Maschinen oder Ausrüstungen. Das liege vor allem daran, dass "die Exportnachfrage unter der nicht so dynamischen Weltkonjunktur" leide, so Fichtner, "und wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen für eine gewisse Unsicherheit sorgen". Gemeint sind damit Entwicklungen wie der in Großbritannien beschlossene Ausstieg aus der Europäischen Union.
Brexit und Banken
Für die Wissenschaftler steht der Brexit stellvertretend für eine gesellschaftliche Strömung, die "die gesamtwirtschaftlichen Vorteile internationaler ökonomischer Integration" nicht wahrnimmt. Global zunehmende protektionistische und isolationistische Tendenzen seien ein Abwärtsrisiko. "Sollte dieses Phänomen auch in anderen Regionen verstärkt Einfluss auf die Politik gewinnen, wird das Wachstumspotenzial der Weltwirtschaft geringer ausfallen", heißt es im Herbstgutachten.
Einen Risikofaktor für die Konjunktur machen die Wissenschaftler auch in den Problemen führender deutscher Banken aus. Eine Bankenkrise könne "gravierende Auswirkungen" auf die Konjunktur im gesamten Euroraum haben. Eine schnelle Lösung der Probleme können aber auch die Ökonomen nicht anbieten. Die Möglichkeiten des Staates, Instituten in Schieflage notfalls unter die Arme zu greifen, seien beschränkt.
Hausaufgaben für die Politik
Insgesamt halten die Wissenschaftler für die Bundesregierung eine ganze Reihe von Ermahnungen bereit. Sie verteile zu viel Geld und setze zu sehr auf den Konsum. "Angesichts der Herausforderungen durch die Flüchtlingsmigration, aber auch langfristiger Belastungen für die deutsche Wirtschaft ist eine Neuausrichtung der Politik dringend angezeigt."
Wie die aussehen könnte, legen die Wissenschaftler natürlich dar. Ab dem Jahr 2020 würden Aufgaben auf die Politik warten, die angesichts der alternden Gesellschaft und sinkender Bevölkerungszahlen dringend angegangen werden sollten. Zum einen fordern sie mehr Investitionen in Bildung, Forschung und Infrastruktur. Zum anderen müssten diejenigen von Steuern und Sozialbeiträgen entlastet werden, die Arbeit und Produktivität schafften. Finanzielle Spielräume in den Staatskassen gebe es durchaus.
Gabriel will investieren
Forderungen, die Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel nur zu gerne hört. "Das Herbstgutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute bescheinigt der deutschen Wirtschaft eine robuste Verfassung. Wir sollten diese Stärke nutzen, um die enormen Herausforderungen zu meistern, die vor uns liegen." Der für 2016 von den Instituten erwartete Überschuss der öffentlichen Haushalte in Höhe von 20 Milliarden Euro sowie die historisch niedrigen Zinsen würden einen Handlungsspielraum eröffnen, "der für kluge Investitionen für eine gute Zukunft" genutzt werden müsse, so Gabriel.
"Ich teile die Einschätzung der Institute, dass die Integration und Qualifizierung der Flüchtlinge sowie Investitionen in Bildung und Forschung zentrale Aufgaben darstellen, denen wir uns stellen müssen." Im Wirtschaftsministerium wird das Herbstgutachten genutzt, um die Wachstumsprognose der Bundesregierung aufzustellen. Das Ergebnis wird Sigmar Gabriel am 7. Oktober verkünden.