Zwischen Aliens und Holocaust: Steven Spielberg ist 70
17. Dezember 2016Durfte Spielberg am 18. Dezember 2016 möglicherweise gar nicht seinen 70. Geburtstag feiern? Das zumindest behauptet der Filmjournalist Georg Seeßlen in seiner neuen Biografie. Seeßlen, ein ausgezeichneter Kenner des Spielbergschen Oeuvres, schreibt, dass der Amerikaner tatsächlich erst 1947 geboren worden sei: "Dass Spielberg eine Biografie (…) fälscht, ist keine große Sache. Alle Künstler tun das, mehr oder weniger. Erstaunlich ist eher, dass er seine so 'stinknormale' Biografie umdeutet. In diesem Zusammenhang ist wohl auch die etwas enigmatische Fälschung des eigenen Geburtsdatums zu sehen: Die von dem Regisseur gestreute Legende gibt das Jahr 1946 an, während Steven Spielberg tatsächlich im Jahr 1947 geboren wurde."
Die Fälschung sei bei einem Rechtsstreit um den Film "Amblin" ruchbar geworden, bei dem Spielberg argumentiert hätte, "er könne zum damaligen Zeitpunkt noch nicht für einen Vertrag haftbar gemacht werden, weil er damals noch nicht volljährig gewesen sei." Wie dem auch sei - überall wird in diesen Tagen an den Geburtstag des Filmregisseurs erinnert.
Da hierzulande gerade zwei Biografien - neben der von Georg Seeßlen (GS) noch die Neuerscheinung von Thomas Koebner (TK) - über den US-amerikanischen Regisseur erschienen sind, nachfolgend zum Geburtstag ein kleines Spielberg-Glossar in sieben Kapiteln:
1. Steven Spielberg und seine Helden:
"Spielbergs Helden sind keine, die sich eine Aufgabe suchen, keine, die einen historischen Auftrag erfüllen, keine, in denen die Gleichung zwischen story und history aufgehen könnte. (…) Spielbergs Helden werden geboren durch eine Herausforderung, die sie nicht gesucht haben." (GS)
"Spielbergs Helden sind anfangs ihren Herausforderungen, den Drachen in welcher Metamorphose auch immer, nicht ebenbürtig, nicht mit derselben tödlichen Kraft ausgestattet. Und wenn sie ihre Gegner, die Monstren, tatsächlich überwunden haben, gilt das oft nur für einen Augenblick." (TK)
2. … und das Kind im Manne:
"Steven Spielberg dreht seine Filme für das Kind in sich. Er möchte, mehr noch, ein mediales Reich der ewigen Kindheit errichten." (GS)
"Die kindliche Welt soll nicht zerbrechen - und wenn dies doch geschieht, gibt es das ungeheure Begehren, sie wieder zusammenzuleimen. Doch die Bruchstellen bleiben unübersehbar. Spielberg gilt zu Unrecht als Anhänger der tröstlichen, notfalls sentimentalen Schlüsse." (TK)
3. …und die Familie:
"Die Filme sind deshalb so dicht geflochten, weil sie beinahe immer zwei Ziele gleichzeitig erreichen müssen. Sie müssen die Familie rehabilitieren oder eine neue Familie imaginieren, und dabei noch mehr die Rolle des Vaters restaurieren." (GS)
"Das Leiden unter einer defekten Familie, mit abwesendem Vater und überlasteter, dem Kind entfremdeter Mutter, der Eifer, das Familiensystem durch die Wahl von Ersatzvätern oder Ersatzkindern wieder zu stabilisieren, zu vervollständigen, zu heilen: beides, die Klage über den Verlust einer intakten Familie und der Versuch ihrer Wiederherstellung, kehrt als mehr oder weniger verdecktes Thema, geradezu als Obsession, in allen Filmkonzepten Spielbergs wieder." (TK)
4. …und die Welt der Wunder und Dämonen:
"Mit E.T. hatte Steven Spielberg den sense of wonder für die achtziger Jahre gerettet. (…) Und für Spielberg selber ist es wichtig, nicht nur Wunder und Versöhnung zu zeigen, sondern auch die unerhörte, entzauberte und doch von Dämonen beherrschte Welt." (GS)
"Spielberg ist ein sehr erfolgreicher Entertainer und subtiler Künstler, beides. Die immense Menge an Zuschauern, die seine Filme sehen wollten, fühlten sich durch den Spannungsspezialisten von ihrer Welt abgelenkt. Das bange Warten auf die schockierenden Attacken des Trucks, des Hais, der Verfolger, der Saurier, der feindlichen Soldaten, der Tripoden hat Spielberg mit einer gewissen sadistischen Lust inszeniert, vorantreibend und hemmend, Sekunde für Sekunde, als sei es ihm darum zu tun, das Publikum in seiner Angstlust ein wenig zu quälen." (TK)
5. …und Frauen und Sexualität:
"Auffallend viele Frauen in den Spielbergfilmen haben Namen, an denen das Geschlecht nicht gleich zu erkennen ist … (…) Statt des love interest steht in Steven Spielbergs Filmen die Mutter im Vordergrund. Die Frau ist schon Mutter, bevor sie Frau wird. (…) Immer wieder taucht dagegen das kleine Mädchen als Bild der absoluten Unschuld auf." (GS)
"Dieses Rollenkonzept (in "Indiana Jones", Anm. der Red.) einer im Erotischen defensiven männlichen Hauptfigur kommt ohnehin Spielbergs Geschmack entgegen, der explizite Liebesszenen in seinem gesamten Oeuvre, mit einer Ausnahme, am Schluss von 'Munich', vermeidet." (TK)
6. …und die Politik:
"…das Kino des Steven Spielberg (ist) das umfassendste Projekt der Versöhnung in der populären Kultur der Nachkriegsgeschichte: die Versöhnung der jüdischen und der christlichen Elemente, (…) der weißen und der schwarzen Kultur, der Gegner und der Befürworter des Vietnamkriegs, der Generationen und Geschlechter." (GS)
"Obwohl Spielberg bestreitet - sicher zu Recht -, in seinen Filmen ein Programmatiker zu sein, der auf alle möglichen Fragen Antworten bereithalte, legt er doch den Finger in politische Wunden. Er führt vor Augen, was es heißt, wegen der schwarzen Hautfarbe unterdrückt zu sein (…), und entwickelt - als Sohn einer jüdischen Familie - ein deutliches und kritisches Bewusstsein dafür, was es heißt, als Außenseiter, als different zu gelten." (TK)
7. …und Märchen:
"Natürlich ist die Struktur (…) seiner Plots zunächst einmal sehr deutlich dem Märchen verwandt: Es geht zugleich um eine Ablösung der Kinder von den Eltern und ein versöhnendes Ereignis (…), die durch ein phantastisches Ereignis oder Wesen gefördert wird. Aber das Erzählziel scheint nicht mit dem des Märchens identisch. Während nämlich dieses mit der Vollendung der Ablösung endet, führen Spielbergs Filme umgekehrt in eine endlose Fortsetzung des Märchenhaften im Alltag." (GS)
"Im Rückblick beurteilt Spielberg E. T. als einen der Filme, die ihm besonders nahe geblieben sind. Die Idee vom Freund, der einen ungeachtet gegenseitiger Zuneigung schließlich doch und für immer verlässt, da er selbst sonst sterben würde, offenbart zwei tragische Momente: die Erkenntnis unaufhebbarer Fremdheit und als Folge davon die unausweichliche Trennung. Man könnte sich an manche unerbittlich traurige Märchen von Hans Christian Andersen erinnert fühlen …." (TK)
Die Zitate entstammen den beiden Biografien: Georg Seeßlen: Steven Spielberg und seine Filme (GS), Schüren Verlag 2016, 304 Seiten, ISBN 9783894728083; Thomas Koebner: Steven Spielberg, Zwischen Arthouse und Effektkino (TK), Reclam Verlag 2016, 286 Seiten, ISBN 9783 150110874.