Zwischen Angst und Selbstbewusstsein
1. März 2015"#Heiratsmarkt" wirft der Beamer irgendwann am Samstagabend groß auf die Wand. Und jeder hier weiß, was gemeint ist. Party in Berlin mit hunderten junger Juden, Clubatmosphäre mit dröhnenden Bässen. Der jährlich stattfindende Jugendkongress der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland ist eine Börse des Vernetzens und Kennenlernens, auch des Flirtens.
Mit mehr als 400 Teilnehmern ist das viertägige Treffen, das am Sonntag endete, ausgebucht. Und das bislang größte dieser Art. Thematisch geht es um den 50. Jahrestag der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel, der im Mai ansteht. Abraham Lehrer, der Vorstandsvorsitzende der Zentralwohlfahrtstelle der Juden in Deutschland, bittet zum Auftakt die Teilnehmer, zu bedenken, dass auch andere Gäste im Tagungshotel wohnen und sich das Haus nicht über leere Whisky-Flaschen in den Zimmern freut.
Gleich bei seinem nächsten Satz eine Szene, die man bei einer Veranstaltung dieser Größe in Deutschland kaum ein zweites Mal erlebt. Da erinnert Lehrer die Teilnehmer an die Polizisten vor dem Hotel, "die dafür sorgen, dass wir hier geschützt bis Sonntag tagen können". Da klatschen die jungen Leute mehr und lauter Beifall als bei der Begrüßung aller Ehrengäste, dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, dem Botschafter Israels, einigen aus Israel angereisten Referenten.
Muslime und Rechtsradikale
Die mörderischen Anschläge von Paris und Kopenhagen, die wachsende Angst vieler Juden kommen auch bei diesem Kongress immer wieder zur Sprache. Seinen Auftakt begleitet eine Äußerung von Josef Schuster. Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland rät in einem Radio-Interview davon ab, in Problemvierteln die Kippa zu tragen, die Kopfbedeckung männlicher Juden. So steht Schuster am Rande des Kongresses einem Fernsehteam nach dem anderen Rede und Antwort, verweist auf muslimischen Judenhass, auch auf Stadtteile mit hohem Anteil an Rechtsradikalen. Das gelte nicht nur, aber auch für Berlin.
Berliner Landespolitiker bis hin zum neuen Regierenden Bürgermeister Berlins, Michael Müller, weisen Schusters Warnung rasch zurück. Er nehme "das so nicht wahr", sagt der SPD-Politiker. Er sehe auch in der Hauptstadt kein Problem. Auch aus anderen deutschen Städten kommt Widerspruch: So flanieren am Samstag zehn nichtjüdische FDP-Mitglieder mit Kippa durch das Münchner Bahnhofsviertel – und berichten hinterher von "vielen freundlichen Gesprächen" Wer die Stimmung beim Kongress verfolgt, kann solche Reaktionen nur als Politikromantik oder auch Realsatire bewerten.
Mit der Fahne durch Neukölln?
Bei der sonntäglichen Abschlussdiskussion appelliert einer der Teilnehmer an den Stolz. Und meint, man müsse doch "mit einer israelischen Fahne durch Berlin-Neukölln gehen können" Er erntet bestenfalls Gelächter im Saal. Egal ob junge Teilnehmer aus Berlin oder anderen Städten kommen – im Gespräch mit der Deutschen Welle berichten sie von Zurückhaltung, auch von Angst. Sie sei, sagt Darina aus Düsseldorf, seit dem letzten Sommer vorsichtiger "und gebe nicht direkt zu erkennen, dass ich jüdisch bin. Auch nicht beim Arbeitgeber. Ich würde es nie mehr rausposaunen", so die 26-Jährige.
Und Alexander aus Mannheim (34) meint, er werde "nicht sein Glück ausreizen und allein mit der Kippa auf die Straße gehen". Wenn man ein Zeichen setzen wolle, "dann in Gemeinschaft mit Mehreren. Das ist auch wichtig." Und Victoria aus Hamburg schildert Ähnliches: "Ich würde nie mit einem sichtbaren Davidstern über den Steindamm gehen, wo es eine Reihe von Moscheen gibt." Im vorigen Sommer, als der Gaza-Krieg für Demonstrationen und Kontroversen in Deutschland sorgte, habe sie Angst gehabt, überhaupt nur in die Synagoge zu gehen.
Drei Stimmen aus einer größeren ähnlichen Zahl. Deutschland, meinen einige, sei für Juden vielleicht das sicherste Land in Europa. Dafür seien sie diesem ihrem Land dankbar. Aber Angst gibt es. So verwundert die Aufmerksamkeit nicht, mit der der Kongress sicherheitspolitische Fragen erörtert, den langjährigen Austausch von Bundeswehr und israelischer Armee beispielsweise. Oder auch mit dem Präsidenten des Verfassungsschutzes diskutiert. Als Verfassungsschutz-Chef Hans-Georg Maaßen allgemeine Bedrohungslagen zwischen Links- und Rechtsextremisten und Salafisten schildert, ist es gespannt still im vollen Saal. Nach seiner Rede kommt gleich die erste Stimme aus dem Plenum mit scharfer Kritik an der Arbeit und den rätselhaften Pannen deutscher Ermittler im Zuge der NSU-Morde rechtsradikaler Täter.
Mischehen als Problem
Bei der Abschlussdiskussion berichten der Geschäftsführer des Zentralrats der Juden in Deutschland, Daniel Botmann (30), und der wenig ältere Geschäftsführer der Synagogen-Gemeinde Köln, Alexander Sperling, sie hätten ihre heutigen Ehefrauen bei einem solchen Jugendkongress kennengelernt. Sie sagen es scherzhaft – und doch vor ganz ernstem Hintergrund. Es ist ein Appell, einen jüdischen Partner zu finden. "Ich glaube", sagt Sperling, "dass die meisten von uns hier sind, weil sie genau das möchten: nämlich jüdisch heiraten".
Die Gemeinden in Deutschland leiden unter religionsverschiedenen Mischehen. In Frankfurt, sagt die Direktorin der dortigen Gemeinde, seien es an die 70 Prozent aller Eheschließungen. Die Anerkennung durch das Rabbinat ist dann schwierig, auch die religiöse Erziehung der Kinder.
Es ist nur die nächste Herausforderung für die jungen Juden. Auch im Berliner Tagungshotel mischt sich auf den Fluren ständig Deutsch und Russisch, gelegentlich auch mit Englisch und Hebräisch. Seit bald 25 Jahren sind die 108 jüdischen Gemeinden in Deutschland mit der Integration zigtausender deutschstämmiger Juden aus der früheren Sowjetunion gefordert und auch überfordert. Mancherorts haben sich Gemeinden gespalten zwischen "Alten" und "Neuen", zwischen Etablierten und sozial Schwachen.
"Als Russin abgestempelt"
Lisa aus Hamburg, einst als Kind nach Deutschland gekommen, schildert im Plenum, warum sie jetzt aus der Gemeinde der Hansestadt ausgetreten sei. "Auch nach 24 Jahren wurde ich da immer noch als Russin abgestempelt." Sie unterrichte als Lehrerin an einer Hauptschule, sagt sie. Da hätten gelegentlich muslimische Schulkinder mehr Interesse an ihrer Religion als ihre eigene Heimatgemeinde. Auch da klatschen viele.
Es ist eine eigenwillige Multikulturalität und irgendwie auch ein Stück gegenwärtiges Europa im Saal. Nur, dass die Russen und Ukrainer friedlich weiter auf Deutsch miteinander reden. Mag sein, dass sie mal zum Studium ins Ausland gehen oder für eine Zeit nach Israel – aber Deutschland bleibt, zumindest auch, ja Heimat. Sie sehe sich, meint Victoria aus Hamburg, "vor allem als stolze Europäerin. Die Grenzen verschwimmen." Und auch sie bedankt sich im Rausgehen bei den Polizisten vor der Tür.