Ägypten: Der Tod der Sara Hegazy
16. Juni 2020"Ich habe versucht, Erlösung zu finden und es nicht geschafft. Bitte vergebt mir". Mit diesen Worten verabschiedete sich Sara Hegazy aus dem Leben. "An die Welt" gerichtet, schrieb sie in ihrem Abschiedsbrief: "Du warst weitgehend grausam, aber ich verzeihe."
Drei Jahre hatte die lesbische ägyptische Aktivistin im kanadischen Exil in Toronto gelebt, wohin es sie nach ihrer Freilassung aus einem ägyptischen Gefängnis gezogen hatte. Nun ertrug sie ihre Situation offenbar nicht mehr und schied freiwillig aus dem Leben. Ihr Anwalt Khaled al-Masry bestätigte öffentlich entsprechende Darstellungen ägyptischer und anderer Medien.
Zwar sei die LGBT-Aktivistin seinerzeit gegen Kaution freigelassen worden, berichtet die Webseite "Egyptian Streets". Aber ihre dreimonatige Gefängnis-Erfahrung sei körperlich und emotional so erschöpfend gewesen, dass sie zu einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung und seinerzeit auch schon zu einem gescheiterten Selbstmordversuch geführt habe.
Aus Sicht der ägyptischen Behörden hatte sich die 30 Jahre alte Frau eines Vergehens schuldig gemacht, das laut dortiger Gesetzeslage - anders als in mehreren anderen Ländern der Region - explizit zwar gar nicht strafbar ist, aber gesellschaftlich stark tabuisiert wird und nicht selten Hetze in sozialen Netzwerken sowie staatliche Repressionen nach sich zieht: Sie hatte sich offen zu ihrer Homosexualität bekannt. "Ich habe mich in einer Gesellschaft offenbart, die alles hasst, was von der Norm abweicht", so Hegazy damals nach ihrer Freilassung im Gespräch mit der DW.
Homosexualität als Vergehen
Verhaftet wurde Hegazy 2017, weil sie anlässlich eines Konzerts der libanesischen Band "Mashrou' Leila" - deren Frontmann ist bekennender Homosexueller - in Kairo die Regenbogenflagge gehisst hatte, das Emblem homosexueller und anderer nicht-heterosexueller Menschen.
Rund eine Woche nach dem Konzert wurde Hegazy - wie auch mehr als 70 weitere LGBT-Aktivisten - von ägyptischen Sicherheitskräften verhaftet. "Es war eine ganze Truppe, eine große Zahl bewaffneter Offiziere", beschrieb Hegazy damals rückblickend den Moment ihrer Verhaftung, "und das alles nur, um eine einzelne Frau zu verhaften". Presseberichten zufolge war sie die einzige Frau - oder zumindest eine von nur ganz wenigen -, die nach dem Konzert verhaftet wurde.
Neben Hegazy war unter anderem auch der seinerzeit erst 21 Jahre alte Ahmed Alaa verhaftet worden. Auch er ging nach dem Gefängnisaufenthalt ins kanadische Exil. Beide stellten sich nach ihrer Freilassung gemeinsam den Fragen der DW im Video-Interview.
Sara Hegazy und Ahmed Alaa erzählten damals von den Fotos des Konzerts, die sie in sozialen Netzwerken gepostet hatten, und die beiden dort neben Zuspruch und Solidarität auch viel Hetze, persönliche Beleidigungen und Bedrohungen einbrachten. "Wir hätten nie gedacht, dass dies solche Reaktionen provozieren würde." Die Verhaftung sei brutal verlaufen, unter Einsatz eines Elektroschockers. Auf der Polizeistation sei sie dann sexueller Gewalt durch andere Frauen ausgesetzt gewesen, so Hegazy damals im Interview mit der DW. "Ihnen wurde befohlen, das zu tun."
Homophobie in Ägypten
Der Staat habe damals so gewalttätig reagiert, weil die Homosexuellen-Flagge erstmals öffentlich gehisst wurde und es durchaus große Unterstützung gegeben habe, sagte Alaa damals der DW. Viele Menschen hätten nicht nur persönliche Unterstützungsbereitschaft gezeigt, sondern sich auch selbst zu ihrer Homosexualität bekannt. "Das war ein Schlag nicht nur ins Gesicht des Regimes, sondern auch seiner patriarchalischen, rückwärtsgewandten Strukturen."
Im Gefängnis habe er sich auch Mitgliedern der Muslimbrüder und der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) gegenüber gesehen, berichtete Alaa über seine Haftzeit. Für beide Gruppen stellen Homosexuelle eine Provokation dar. "Ich habe ihnen gesagt, dass ich getrunken hätte und nicht gewusst habe, was ich tue", umriss Hegazys Weggefährte Alaa seine damalige Schutzstrategie.
Vergiftetes Klima
Auch von der vergifteten Atmosphäre in Ägypten gibt das Video des DW-Interviews mit Sara Hegazy und Ahmed Alaa einen Eindruck: Es zeigt neben den Interview-Ausschnitten auch Mitschnitte aus dem Programm ägyptischer TV-Sender im Umfeld der Verhaftung.
"Wie kann die Homosexuellen-Flagge über Ägyptens reinem Land gehisst werden", erregte sich ein Kommentator des TV-Senders "Al Assema". "Die Homosexuellen haben sich erhoben, oh Gott", spottete ein Moderator des Senders ONTV. Und im Sender "Sada el Balad" sprach ein Sprecher von Homosexualität als "dieser Ausschweifung, dieser Schande, diesem Verbrechen".
An dieser Haltung hat sich bis heute wenig geändert. "Die ägyptische Regierung weigert sich, die Existenz von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender (LGBT) anzuerkennen", notierte Rasha Younes, bei Human Rights Watch für die Rechte von LGBT-Menschen zuständig, erst kürzlich auf der Homepage der Menschenrechtsorganisation. "Sie (die Regierung, Anmerkung der Redaktion) verstößt damit gegen ihre Verantwortung, die Rechte aller zu schützen".
Erst im März dieses Jahres hätten Vertreter Ägyptens auf einer Sitzung des UN-Menschenrechtsrats internationale Empfehlungen zur Verbesserung der Rechte von LGBT zurückgewiesen.
Unwille zu Reformen
Die Menschenrechtsorganisation "African Human Rights Media Network" (AHRMN) hat für das Jahr 2019 insgesamt 65 Verfolgungsakte gegen LGBT in Ägypten dokumentiert. Dabei wurden insgesamt 92 Personen verhaftet. Demnach wurden einige über einschlägige Dating-Apps in eine Falle gelockt, 47 Personen wurden auf offener Straße, acht in Häusern oder Hotels festgenommen.
Die Menschenrechtsorganisation sieht die Verhaftungen im Kontext eines generell aggressiven Vorgehens der Regierung unter Präsident Abdel Fattah al-Sisi gegen friedliche Demonstranten. "Dieser aggressive Ansatz" richte sich auch gegen Personen aus der LGBT-Gemeinschaft. "Verhaftungsszenarien und anschließende Strafverfolgungsverfahren liefen während der vergangenen Jahre auf die gleiche Weise und mit neuen Techniken ab", heißt es in der im März 2020 veröffentlichten Dokumentation.
So wie bei Sara Hegazy, deren mutige Stimme nun für immer verstummt ist.
Die Deutsche Welle berichtet zurückhaltend über das Thema Suizid, da es Hinweise darauf gibt, dass manche Formen der Berichterstattung zu Nachahmungsreaktionen führen können. Sollten Sie selbst Selbstmordgedanken hegen oder in einer emotionalen Notlage stecken, zögern Sie nicht, Hilfe zu suchen. Wo es Hilfe in Ihrem Land gibt, finden Sie unter der Website https://www.befrienders.org/. In Deutschland hilft Ihnen die Telefonseelsorge unter den kostenfreien Nummern 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222.