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Ägypten am Scheideweg

Kersten Knipp2. Juli 2013

Die Lage in Ägypten spitzt sich zu. Immer mehr Menschen gehen auf die Straße, um den Rücktritt von Präsident Mohammed Mursi zu fordern. Das Land ist tief gespalten. Doch es gibt noch eine Chance auf Versöhnung.

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Demonstrantenmenge, im Vordergrund mehrere Frauen (Foto: Reuters)
Bild: Reuters

Die Botschaft war eindeutig: "Für Muslimbrüder verboten", war auf der Fahne an einer der Zufahrtsstraßen zum Tahrir-Platz zu lesen. Dort versammelten sich gerade die Gegner von Präsident Mursi. Schon durch die Flagge signalisierten sie, wie viel Interesse sie am politischen Dialog hatten: nämlich wenig bis gar keines.

Nach Einschätzung ägyptischer Kommentatoren spiegelte die Fahne wie kaum ein anderes Bild die tiefe Zerrissenheit der ägyptischen Gesellschaft. Zu Beginn der Revolution, im Januar 2011, hatten sich auf dem Platz noch Ägypter aller sozialen Schichten und Glaubensrichtungen versammelt. Vereint protestierten sie gegen den damaligen Präsidenten Husni Mubarak. Zweieinhalb Jahre später ist von dieser Einheit nichts mehr zu spüren. Das Land ist gespalten, Anhänger und Gegner des neuen Präsidenten Mohammed Mursi stehen sich unversöhnlich gegenüber. An einen Dialog ist derzeit kaum zu denken: Mursis Gegner fordern den Präsidenten längst nicht mehr zu Reformen auf, sondern zum Rücktritt. Die Anhänger des Präsidenten hingegen wollen unter Verweis auf das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen ihren Kandidaten unbedingt weiter im Amt sehen.

Gefühl der Ausgrenzung

Über dessen Politik haben sich die Ägypter jedoch zerstritten. Die Muslimbrüder, erklärt der Politikwissenschaftler Gamal Soltan von der Amerikanischen Universität in Kairo, hätten sich vor allem dadurch unbeliebt gemacht, dass sie der Religion eine größere Rolle im Staatswesen hätten verschaffen wollen. "Eine solche Position integriert aber nicht alle Ägypter gleichermaßen, unabhängig von ihrem religiösen oder ideologischen Hintergrund." Viele Bürger, vor allem Kopten und Schiiten, hätten das Gefühl, ausgegrenzt zu werden. "Und dieser Eindruck hat die Situation ausgelöst, die wir jetzt haben", so Soltan im Gespräch mit der DW.

Männer mit ägyptischer Fahne und Transparent mit arabischen Schriftzeichen (Foto: DW/Nael Eltoukhy)
Letzte Rettung Militär: Demonstranten fordern das Heer zum Einschreiten gegen Mursi aufBild: DW/Nael Eltoukhy

Die Demonstrationen zum Jahrestag von Mursis Amtsantritt artikulieren ein generelles Unbehagen weiter Teile der ägyptischen Gesellschaft angesichts der Politik des Präsidenten. So lehnen viele Ägypter die im November 2012 eingeführte neue Verfassung ab. Ihrer Ansicht nach räumt sie dem Islam eine zu große Bedeutung ein. Zwar wurde die Verfassung in einer Volksabstimmung von gut zwei Dritteln aller Abstimmenden akzeptiert. Doch die Wahlbeteiligung lag nur bei etwa 33 Prozent. Die sehr niedrige Quote lässt viele Ägypter zweifeln, ob die Verfassung hinreichend legitimiert sei. Außerdem werfen Mursis Gegner ihm und den hinter ihm stehenden Muslimbrüdern vor, sie wollten die Kultur des Landes islamisieren. Besonders stark in der Kritik steht der Ende Mai dieses Jahres berufene Kulturminister Alaa Abdel-Aziz. Er hatte kurz nach Amtsantritt mehrere einflussreiche Posten mit eigenen Leuten besetzt, so etwa die Intendanz der Oper in Kairo oder die Führung einer Abteilung, die in seinem Ministerium für Kunstfragen zuständig ist.

Wirtschaftskrise verschärft Spannungen

In Ägypten werde ein ideologischer Machtkampf ausgetragen, erläutert Gamal Soltan. Dabei hätten beide Parteien hinreichend Möglichkeiten gehabt, miteinander ins Gespräch zu kommen. Das aber hätten sie versäumt - obwohl grundlegende Fragen anstünden: "Es geht um die Anerkennung des politischen Pluralismus oder auch der Tatsache, dass die Gesellschaft aus verschiedenen Gruppen besteht, die alle ein legitimes Existenzrecht haben."

Anhänger Mursis halten ein Transparent mit dessen Foto in die Höhe (Foto: dpa)
Weiterhin ein Präsident der Massen: Mursi-Anhänger mit Plakat ihres IdolsBild: picture-alliance/dpa

Zusätzlich verschärft werde die ideologische Zerrissenheit durch die derzeitige Wirtschaftskrise. In Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds hat sich die Regierung zu umfangreichen Reformen verpflichtet. So will sie Subventionen zurückfahren und Steuern erhöhen - Maßnahmen, die die Muslimbruderschaft gerade bei den ärmeren Bevölkerungsschichten Sympathien kosten werden. Doch das Hauptproblem, so der ebenfalls an der Amerikanischen Universität in Kairo lehrende Ökonom Ahmed Kamaly, sei die Politik. Die Zukunft des Landes sei unsicher, zudem werde es von wenig erfahrenen Politikern gelenkt. "Verbessert sich die politische Situation, geht es mit Ägypten auch wirtschaftlich wieder bergauf. Das Land braucht politische Stabilität. Ansonsten habe ich wenig Hoffnung für Ägypten."

Mangelhafte politische Kultur

Das sieht auch Gamal Soltan so: "Die politische Elite des Landes könnte eine nationale Versöhnung anstoßen, eine Art nationale Übereinkunft. Auf dieser Grundlage könnte man dann auch die Lösung der wirtschaftlichen und politischen Probleme angehen." Ein solcher Schritt setze aber eine hinreichend legitimierte Regierung voraus, die entsprechende Entscheidungen treffe. Dass die jetzige Regierung dazu in der Lage ist, bezweifelt Soltan aber.

Kritik ziehen derzeit allerdings auch die Gegner des Präsidenten auf sich. Wiederholt haben sie Einladungen Mursis zum Dialog ausgeschlagen, wiederholt haben sie zum Wahlboykott aufgerufen. Ein solches Verhalten, schreibt darum die liberale Tageszeitung "Al-Masry Al-Youm", trage wenig dazu bei, die politische Kultur des Landes zu verbessern. Derzeit deute vieles auf einen Machtkampf in Ägypten hin. Sollte sich eine der beiden Gruppen durchsetzen, müsse sie der Versuchung widerstehen, der anderen ihren Willen aufzuzwingen. Die letzten Monate hätten gezeigt, dass sich durch eine solche Haltung nichts erreichen lasse. "Vielmehr kommt es für die Ägypter jetzt darauf an, Selbstkritik zu üben, sich um Einheit und nationale Verständigung zu bemühen - und ernsthaft nach einem Ausweg aus der Krise zu suchen."

Ausgebrannter Sitz der Muslimbruderschaft in Kairo (Foto: AFP/Getty Images)
In Flammen aufgegangen: Sitz der Muslimbruderschaft in KairoBild: Khaled Desouki/AFP/Getty images

Inzwischen hat die Armee in Ägypten der politischen Führung und der Opposition als Reaktion auf die Massendemonstrationen in Kairo eine Frist bis Mittwoch (03.07.2013) gesetzt, "um die Forderungen der Bevölkerung zu erfüllen", wie es Generalstabschef Abdel Fattah al-Sisi formuliert. Falls das nicht gelingen sollte, werde die Armee eigene Lösungsansätze vorschlagen.

Das ägyptische Präsidialamt wies das Ultimatum des Militärs indirekt zurück. Die entsprechende Erklärung der ägyptischen Streitkräfte sei Präsident Mursi vor der Verbreitung "nicht vorgelegt" worden, hieß es in der Nacht zum Dienstag in einer Erklärung. Sie enthalte außerdem Unklarheiten. Die Regierung werde daher "auf dem Weg fortfahren, den sie gewählt hat", um eine nationale Versöhnung zu erzielen.