Äthiopien: Norden befriedet, Zentrum umkämpft
1. Februar 2023Das noch junge Friedensabkommen in Äthiopien hält zwar an - aber der vom zweijährigen Bürgerkrieg geschundene Vielvölkerstaat ist äußerst fragil. Erschwert wird die Lage durch einen alten Konflikt, der wieder aufflammt: Während in dem ehemaligen Kriegsgebiet im nördlichen Bundesstaat Tigray die Waffen seit November 2022 weitgehend schweigen, liefern sich Milizen der Oromo- und Amhara-Ethnien und Regierungstruppen im Landesinneren Kämpfe.
Die Oromo und die Amhara, die beiden größten ethnischen Gruppen des Landes, beschuldigen sich gegenseitig, Zivilisten zu töten. Es ist ein Konflikt, der schon 2022 eskaliert war, wie Ahmed Soliman, Experte für das Horn von Afrika bei der Londoner Denkfabrik Chatham House, hervorhebt.
Sicherheitskrise verschärft sich
"Ein Großteil der Gewalt findet in den Grenzgebieten zwischen den beiden Regionen statt und dort, wo Amhara- oder Oromo-Gemeinschaften als Minderheit in anderen Regionen leben", sagt Soliman im DW-Interview. Die Konfrontation dieser regionalen Kräfte habe zu einer beispiellosen Sicherheitskrise im Land geführt.
Augenzeugen sprachen gegenüber der Nachrichtenagentur AP von mehreren Dutzend Zivilisten und Kämpfern, die Ende Januar bei gewaltsamen Auseinandersetzungen zu Tode gekommen seien. In Senbete in der Oromia Zone, einem von Oromo besiedelten Landstrich im Bundesstaat Amhara, berichtet ein Einwohner im DW-Interview: ''Der Konflikt begann am Montag, es kam am späten Vormittag zu zahlreichen Opfern." Auch danach sei mit schweren Waffen geschossen worden und es seien viele Menschen verletzt worden.
Wegen zunehmender Angriffe flohen auch viele Einwohner aus Shewa Robit, einer Stadt im Südosten des Bundesstaats Amhara, nahe der Oromia Zone. "Ich habe gesehen, wie vier Mitglieder der Spezialeinheiten (der Amhara, Anm.d.Red.) an einem Ort begraben worden sind. Zur gleichen Zeit haben wir drei oder vier andere in der Marienkirche begraben. Danach ist wieder ein neues Grab ausgehoben worden", schildert ein Bewohner von Shewa Robit im DW-Interview.
Wiedererstarken historischer Konflikte
Es ist ein historischer Konflikt, der gerade in eine neue Runde geht: Über Jahrhunderte lag die Vormacht in Äthiopien bei den Eliten der heutigen Nordprovinzen Tigray und Amhara, fast ebenso lange gibt es Autonomiebestrebungen der Oromo. Seit sich ethnische Amhara-Gemeinschaften in den 1970er- und 1980er-Jahren in Teilen der Oromia-Region angesiedelt hätten, sei es immer wieder zu Zusammenstößen zwischen den neuen Bewohnern und den Oromo um Land und Ressourcen gekommen, sagt Soliman.
Diese Zusammenstöße hätten sich seit dem Amtsantritt der Regierung von Premierminister Abiy Ahmed 2018 dramatisch verschärft. Es sei regelmäßig zu Kämpfen zwischen Oromo- und Amhara-Milizen gekommen, die oft zu erheblichen Vertreibungen führten.
Durch den zwei Jahre andauernden Krieg zwischen der Regierungsarmee und den Kämpfern in der Region Tigray ist laut Experten im übrigen Land ein Sicherheitsvakuum entstanden. Das machte es den Rebellen der Oromo-Befreiungsarmee (OLA) möglich, den Konflikt in Oromia zu eskalieren, die sich damit zur instabilsten Region Äthiopiens entwickelt hat.
Laut Soliman warb die OLA gezielt um die Unterstützung der lokalen Oromo-Gemeinschaften, indem sie die Amhara der Landnahme in der Region beschuldigte. Die Vielzahl von sicherheitsrelevanten Akteuren verschärfe die Krise noch weiter, warnt Soliman. Und fordert: Um in dieser Situation Stabilität zu schaffen, müsse es einen politischen Dialog geben.
Zaghafte Hoffnung für Tigray
Derweil keimt Hoffnung auf, dass sich die Lage in Tigray weiter stabilisiert, nachdem ein Friedensvertrag vom November das Ende der Gefechte zwischen Regierungssoldaten und den Milizen und lokalen Truppen der Tigray-Volksbefreiungsfront (TPLF) besiegelte.
Seither konnten nach langen Blockaden auch die überlebenswichtigen Hilfslieferungen nach Tigray wieder aufgenommen werden. Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (ICRC) erklärte am Mittwoch, dass der Bedarf immer noch groß sei - auch weil Krankenhäuser und Rettungsfahrzeuge zerstört worden seien. Doch Straßen und Internet würden langsam wieder hergestellt, bestätigt Soliman von Chatham House: "Es gab Gesprächsrunden über die Umsetzung des Abkommens, was einen positiven Trend bedeutet." Die TPLF sei weiter dabei, ihre Truppen zu entwaffnen, habe nach eigenen Angaben bis zu 65 Prozent abgezogen und ihre schweren Waffen abgegeben - in Anwesenheit von Beobachtern der Afrikanischen Union.
Dennoch bleibt für den Experten ein großes Fragezeichen: "Es geht um den vollständigen Rückzug, der nach Aussage der Tigrayer nur parallel zum Abzug der ausländischen und weiterer Nicht-Regierungstruppen erfolgen wird, damit sind die eritreischen Verteidigungskräfte gemeint, die eritreische Armee und die Amhara-Milizen."
Schlüssel für Frieden: Eritreas Abzug
Das Friedensabkommen verlange auch, dass die föderalen Streitkräfte in der Lage sein müssten, die Souveränität und territoriale Integrität der äthiopischen Grenzen zu gewährleisten. Das bedeute den Abzug der eritreischen Streitkräfte aus dem äthiopischen Hoheitsgebiet, inklusive Tigray. "Und das ist der Schlüssel zur Sicherung eines nachhaltigen Friedens im Norden des Landes", so Soliman.
Auch aus Sicht von David Shinn, einem Afrika-Experten an der George-Washington-Universität im US-amerikanischen Washington, DC, ist dieser Punkt entscheidend. Zwar habe er den Eindruck, dass sich zwischen den tigrayischen Verteidigungskräften und der nationalen Armee Äthiopiens ein relativ gutes Verhältnis entwickelt habe, sagte Shinn zur DW.
Misstrauen dauert an
Aber: "Ich denke, dass zwischen den tigrayischen und den eritreischen Streitkräften immer noch ein großes Misstrauen herrscht. In der Zeit, in der die Eritreer in der Region Tigray waren, wurden so viele Gräueltaten verübt, dass es lange dauern wird, bis wieder Vertrauen aufgebaut werden kann", sagt Shinn.
Eritrea, das Land am Roten Meer, das unmittelbar an das äthiopische Tigray grenzt, hatte schon früh im Krieg Truppen entsandt, um die äthiopischen Streitkräfte zu unterstützen. Am Friedensabkommen war es allerdings nicht beteiligt. Shinn betont, der Rückzug sei Bedingung für das Kriegsende: "Wenn nicht alle eritreischen Truppen Äthiopien verlassen, ist das Friedensabkommen sehr infrage gestellt."
Doch für einen nachhaltigen Frieden müssten auch die vielfältigen Spannungen zwischen einzelnen Ethnien beigelegt werden. Im Süden Äthiopiens ist es vergleichsweise ruhig geblieben. Dort soll am 6. Februar ein Referendum in sechs Zonen und fünf Sonderbezirken im Regionalstaat der südlichen Nationen, Nationalitäten und Völker (SNNPR) abgehalten werden, um über einen möglichen zwölften Bundesstaat abzustimmen.
Mitarbeit: Mohammed Negash, Eshete Bekele