Österreich will sich abschotten
19. Januar 2016Der österreichische Außenminister Sebastian Kurz sieht in nationalen Grenzkontrollen kein Teufelszeug, sondern im Gegenteil einen möglichen "Treiber für eine europäische Lösung" der Flüchtlingskrise. Im ZDF-"heute-journal" sagte er, wenn überall Staaten anfingen, Obergrenzen für Flüchtlinge zu setzen und Grenzen zu schließen, könne das einen positiven Dominoeffekt haben, weil Flüchtlinge nicht mehr einfach weiterreisen könnten. Die Zahlen würden dann zurückgehen.
Bisher gebe es in vielen Ländern auf der Route von Südosteuropa "zu wenig Leidensdruck". Vor allem für Griechenland, das Land, wo die meisten Flüchtlinge zuerst den Boden der EU betreten, sei die Lage "höchst komfortabel". Griechenland müsste sich nach den Dublin-Regeln eigentlich um die Flüchtlinge kümmern und ihre Asylanträge bearbeiten. Doch, so Kurz, "die Flüchtlinge werden einfach möglichst schnell nach Mitteleuropa weitertransportiert."
Immer mehr Grenzkontrollen
Österreich ist nicht das einzige Land, das Grenzkontrollen wiedereingeführt hat. Schweden, Dänemark, Deutschland und andere haben es bereits getan. Aber wie die anderen Länder würde Österreich die Grenze nicht vollkommen abriegeln, sondern nur Kontrollen verstärken. Obwohl Grenzkontrollen im Schengen-System eigentlich nicht vorgesehen sind, sind sie vorübergehend und "im Falle einer schwerwiegenden Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit" zulässig.
Yves Pascouau, Migrationsexperte bei der Brüsseler Denkfabrik European Policy Centre, ist froh, dass sich bisher alle an die Regeln gehalten und die Kommission vorher informiert haben. Denn würden irgendwann einzelne Mitgliedsstaaten "außerhalb der Schengen-Regeln" handeln, "wäre das das Ende von Schengen".
Pascouau akzeptiert aber nicht die Kritik von Minister Kurz an Griechenland: "Griechenland hat sich nicht immer an die Regeln gehalten, aber es steht seit Jahren unter extrem hohem Migrationsdruck." "Komfortabel" könne man das nicht nennen. Dazu kämen die Wirtschaftsprobleme. Er rät, man solle sich auch die anderen Länder auf der Balkanroute ansehen. Die "setzen nicht das um, was sie tun müssen", nämlich zu registrieren und Asylanträge zu bearbeiten.
Kein Recht auf das Asylland Deutschland
Eine ähnliche Situation wie die, die jetzt kommen könnte, gab es bereits Ende vergangenen Jahres: Mazedonien, Serbien, Kroatien und Slowenien ließen nur noch solche Menschen durch, die aufgrund ihrer Herkunft mit hoher Wahrscheinlichkeit Chancen hatten, als Flüchtlinge anerkannt zu werden. Das waren für die Länder auf der Balkanroute nur Syrer, Iraker und Afghanen. Alle anderen wurden nicht mehr durchgelassen.
Slowenien, am nördlichen Ende der Route, hatte den Anfang gemacht. "Dann ist ein Dominoeffekt eingetreten, weil kein anderes Land entlang der Strecke diese Leute bei sich haben" wollte, so Melita Sunjic, Sprecherin des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR). Damals ging es nur um wenige hundert Menschen, die abgewiesen wurden. Dasselbe Szenario könnte sich jetzt in größerem Maßstab wiederholen.
Doch darf man einfach jemanden an der Grenze abweisen, selbst wenn er sich nicht ausweisen kann? Sunjic meint - nein: "Die Genfer Flüchtlingskonvention besagt, dass ich in ein Land auch dann einreisen darf, wenn ich nicht die entsprechenden Papiere habe, wenn ich in diesem Land einen Asylantrag stellen will." Alle Länder entlang der Balkanroute, ob EU-Staaten oder nicht, haben die Genfer Flüchtlingskonvention unterschrieben. In allen diesen Ländern hat man also einen Rechtsanspruch auf ein Asylverfahren, wenn man um Schutz bitten möchte.
Doch die UNHCR-Sprecherin stellt auch klar: "Man hat keinen Anspruch, sich das Asylland aussuchen zu dürfen." Kein Flüchtling kann also verlangen, bis nach Deutschland oder Schweden durchgelassen zu werden. Winken ihn die Staaten auf der Route dennoch durch, wie bisher meist gängige Praxis, dann geschieht das im Interesse des einzelnen Transitlandes, weil es sich die Mühen der Asylanträge, der Aufnahme und eventuellen Rückführung ersparen oder schlicht keine Flüchtlinge bei sich haben will.
Düstere Warnungen
Yves Pascouau glaubt, "wir werden in den kommenden Monaten mit internen Grenzkontrollen leben müssen." Wenn alle Staaten sie einführten, kämen allerdings wirtschaftliche Probleme auf die EU zu. "Die sind bisher nicht besonders groß, sie würden aber größer, wenn die Kontrollen andauern." EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hatte kürzlich sogar düster gewarnt: "Wer Schengen killt, wird im Endeffekt den Binnenmarkt zu Grabe getragen haben". Dies könne zu einem Arbeitslosenproblem führen, "das nicht mehr beherrschbar sein wird". Und "ohne Schengen, ohne die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, macht der Euro keinen Sinn."
EU-Ratspräsident Donald Tusk setzte Europa sogar eine Frist, bis zu der das Flüchtlingsproblem gelöst werden müsse. Am Dienstag sagte er im Europaparlament: "Wir haben nur zwei Monate, um die Dinge in den Griff zu bekommen." Wenn nicht, "droht ein Ende des Schengen-Systems".