Überlebenswichtige Tiere sterben aus
12. Februar 2024Die Lage ist mehr als dramatisch: Das macht der erste UN-Bericht über den Zustand der wandernden wild lebenden Tierarten der Welt deutlich. Demnach ist die Tierwelt in einem schockierenden Zustand, die Zahl der weltweit wandernden Tierarten nimmt rasant ab, und das globale Aussterberisiko vieler Tiere steigt.
Zu wandernden wild lebenden Tierarten gehören zum Beispiel Zugvögel und Fledermäuse, aber auch Insekten, Fische, Reptilien und Meeresschildkröten. Besondern Schutz brauchen auch wandernde Meeressäugetiere wie Wale und Seehunde sowie viele landlebende Säugetiere wie etwa Antilopen oder Elefanten.
"Wir rasen praktisch ungebremst auf das sechste Massenaussterben der Geschichte zu. Die Natur befindet sich in einer tiefen, systemischen Krise. Umweltverschmutzung, Lebensraumzerstörung, Überfischung oder illegaler Wildtierhandel sind nur einige der Treiber des Artensterbens", sagte Arnulf Köhncke, der Leiter Artenschutz bei der Umweltschutzorganisation WWF Deutschland.
"Dazu kommen die Folgen der weltweiten Klimakrise, die auf den Verlust der biologischen Vielfalt wie ein Brandbeschleuniger wirkt. Wir Menschen sind dabei gleichzeitig Täter und Opfer: Das weltweite Artensterben ist menschengemacht und raubt uns gleichzeitig die Lebensgrundlagen", so Köhncke weiter.
Bei fast 44 Prozent der Tierarten, die unter CMS (UN-Konvention zur Erhaltung der wandernden wild lebenden Tierarten) gelistet sind, gehen die Populationen erheblich zurück. Mehr als jede fünfte Tierart auf der CMS-Liste ist vom Aussterben bedroht, das ist fast ein Viertel. Werden nicht schnell intensive Maßnahmen zur Erhaltung getroffen, werden diese Tiere vielleicht schon bald von der Erde verschwunden sein.
Wichtige Lebensräume sind nicht geschützt
Um zu überleben, brauchen wandernde wild lebende Tierarten sichere Biodiversitätsgebiete. Etwas mehr als die Hälfte dieser Gebiete aber hat keinen Schutzstatus. Das hat zur Folge, dass bei drei von vier Tierarten die Gefahr besteht, dass ihr Lebensraum kleiner wird oder dass sie ihn ganz verlieren. Wandernde wild lebende Tierarten legen oft lange Wege zurück und überschreiten Ländergrenzen.
Zerfallen diese Regionen in kleine Fragmente, werden einzelne Flächen voneinander abgetrennt und isoliert, gibt es kaum noch zusammenhängende Gebiete. Ursache sind u.a. Urbanisation oder auch extensive Landwirtschaft. Können die Tiere ihre langen Wanderungen, nicht mehr beibehalten, beeinträchtigt das die genetische Vielfalt.
"Wandernde Arten reisen regelmäßig, manchmal über tausende von Kilometern, um bestimmte Orte zu erreichen. Auf dem Weg dorthin sind sie enormen Herausforderungen und Gefahren ausgesetzt", sagte Amy Fraenkel, CMS Exekutivsekretärin. "Das gilt auch für die Zielorte, an denen sie brüten oder an denen sie Nahrung finden."
Da die Tiere auf ihren Wanderungen auch Ländergrenzen überschreiten, ist die globale Community gefordert, um sie zu schützen. Das betrifft Vögel, Fische und Säugetiere genauso wie Insekten.
Bedrohung durch Klimawandel und Umweltverschmutzung
Einen sehr großen Anteil an der Bedrohung der wandernden wild lebenden Tiere haben Klimawandel und Umweltverschmutzung. Der vorgelegte Bericht zeige auf, dass nicht nachhaltige, menschliche Aktivitäten die Zukunft wandernder Arten gefährdeten, sagte Inger Andersen von den Vereinten Nationen.
Diese Lebewesen sind wichtige Indikatoren für Umweltveränderungen und spielen auch eine wesentliche Rolle dabei, die Funktion und die Widerstandsfähigkeit der komplexen Ökosysteme unseres Planeten aufrechtzuerhalten. "Die globale Gemeinschaft hat die Möglichkeit, diese neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Belastungen, denen wandernde Arten ausgesetzt sind, in konkrete Maßnahmen zur Erhaltung umzusetzen", so Andersen weiter. Die Lage ist äußerst prekär, jeder Aufschub spitzt sie weiter zu.
Wandernde Tierarten sind wichtig für unser Ökosystem
Der Fokus des jetzt veröffentlichten Berichtes liegt auf den 1.189 Tierarten, die von den CMS-Vertragsparteien als schutzbedürftig eingeordnet wurden. Darüber hinaus analysiert der Bericht weitere 3.000 Arten, die nicht auf der Liste des CMS stehen.
Der größte Feind all dieser Tierarten sind wir Menschen. Wir schädigen die Artenvielfalt beispielsweise durch Überfischung und die Zerstörung von wichtigen Lebensräumen. Mehr als die Hälfte der gelisteten Gebiete sind bedroht.
Wandernde Tierarten halten unser Ökosystem aufrecht. Insekten beispielsweise bestäuben Pflanzen und bilden so ein wichtiges Glied in der Nahrungskette. Das gleiche gilt für viele Vogelarten. Aber die Bedingungen sind jetzt andere. "Bei den Vögeln gibt es viele Beispiele dafür, dass sie ihre Zugzeiten und bis zu einem gewissen Grad auch die Zugrouten ändern", sagt Colin Galbraith von der schottischen Organisation NatureScot. "Diese Tiere sind eng mit ihrem Nahrungsangebot verbunden, und das kann ihnen entgehen, wenn sie zu spät im Jahr [an ihrem Ziel] ankommen oder zu früh. Viele wandern von einem Ende der Erde zum anderen."
Internationale Zusammenarbeit ist entscheidend, um ihnen zu helfen. Es sei notwendig, Maßnahmen entlang der Migrationsrouten zu ergreifen und das zu allen Jahreszeiten. Vögel kontrollieren auch Schädlinge und verhindern deren Verbreitung. Das ist essentiell, damit Ernten nicht vernichtet werden. "Wenn man Singvögel vernichtet, was die Chinesen während der Kulturrevolution getan haben, dann hat man normalerweise jahrelang wirklich furchtbare Ernten. Die Menschen hungerten damals und mussten Spatzen aus Russland importieren", gibt Martin Wikelski vom Max-Planck-Institut zu Bedenken. Diese übernahmen dann die Aufgaben der Singvögel.
Säugetiere wie beispielsweise Gnus, die vor allem südlich der Sahara zu finden sind, legen jedes Jahr große Entfernungen zurück, um geeignete Weideplätze zu finden. Dabei verteilen sie über ihren Kot Pflanzensamen und tragen so dazu bei, dass die Pflanzenvielfalt weiter bestehen bleibt. Auch Fische, die u.a. wegen Überfischung stark vom Aussterben bedroht sind, sichern während ihrer Wanderungen den Nährstoffkreislauf.
Je weniger wandernde wild lebende Tiere es auf der Erde gibt, umso größer ist die Gefahr, dass unser Ökosystem komplett zusammenbricht.
Wandernde Tierarten kennen keine Grenzen
Ob klein oder groß, ob Wasser, Land oder Luft - für nahezu alle wandernden wild lebenden Tierarten haben sich die Lebensbedingungen verschlechtert: Vom rund 50 Millimeter großen Monarchfalter, der nicht einmal ein Gramm wiegt und zwischen 70 und 330 Kilometern am Tag fliegt, bis hin zu Blauwalen, die bis zu 28 Metern groß werden: Sie alle tragen durch ihre Wanderungen maßgeblich zur Vielfalt und zu einem funktionierenden Nahrungskette bei und damit zum Überleben.
Der Bericht schildert nicht nur die dramatische Situation, in der sich viele Tierarten befinden. Der Bericht gibt auch positive Beispiele. Eines davon betrifft Zypern. Dort konnte durch verschiedene lokale Maßnahmen die Nutzung illegaler Vogelnetze um 91 Prozent verringert werden.
"Wandernde Arten verbinden die ganze Welt", sagt Wikelski. "Aber noch viel wichtiger ist, dass sie enorme Leistungen für das Ökosystem erbringen."
Wenn alle Länder zusammenarbeiten, besteht Hoffnung, dass die Zahl der vom Aussterben bedrohter Tierarten doch noch reduziert werden kann.