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Die Straßburger Misere

Ulrike Mast-Kirschning24. April 2007

Dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte droht der Kollaps, glaubt Renate Jaeger, die deutsche Richterin im Straßburger Gremium. Zurzeit muss über 90.000 Beschwerden entschieden werden.

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Drei runde, futuristische zum Teil verglaste Gebäude. Quelle: dpa
Sitz des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in StraßburgBild: picture-alliance/dpa

Wenn es um den Schutz des Eigentums geht, das Recht auf eine faires Gerichtsverfahren, das Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung und viele andere Menschenrechte - die rund 800 Millionen Bürger in Europa haben eine Instanz, bei der sie ihre Rechte reklamieren können - den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Hier können Einzelpersonen den Staat verklagen - oder ein Staat den anderen.

Für Renate Jaeger ist es der größte Erfolg, "dass ein Gerichtshof, der 46 Richter aus 46 Nationen hat und damit 46 rechtliche und kulturell unterschiedliche Hintergründe, überhaupt in der Lage ist, dies zu integrieren und zu einer gemeinsamen produktiven Arbeit zu finden - und dies schon seit vielen Jahren." Renate Jaeger ist die deutsche Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg – eine andere gibt es nicht. Seit die ehemalige Richterin am Bundessozialgericht und Trägerin des Bundesverdienstskreuzes in Deutschland im November 2004 ihr Amt in Straßburg angtrat, erlebt sie aus eigener Erfahrung, wie komplex die Anforderungen sind.

90.000 Fälle müssen entschieden werden

Eine Frau mit blonden, mittellangen Haaren und Brille. Quelle:AP
Renate JaegerBild: PA/dpa

In Englisch und Französisch beraten und veröffentlichen die verschiedenen Kammern des Gerichtshofs ihre Entscheidungen. Mit seinen Urteilen bindet das Gericht alle Staaten, die die europäischen Menschenrechts-Konventionen gezeichnet haben.

Das so genannte Ministerkomitee überwacht die Vollstreckung. Das kann nur eine Entschädigungszahlung sein, aber in vielen Fällen bedeutet das auch, dass ganze Rechtsordnungen geändert werden müssen. "Vor zwei Jahren hat Polen in ganz großem Stil Eigentumsrechte ändern müssen und Entschädigungen zahlen müssen. Es handelte sich um Tausende von Betroffenen - und Polen hat seine Eigentumsrechte geändert. Es hat eine Verwaltungsbehörde eingesetzt und einen Fonds gegründet, damit Entschädigungen gezahlt werden konnten", erinnert sich Richterin Jaeger.

Rund 90.000 Fälle liegen derzeit zur Entscheidung in Straßburg. Ursprünglich aber war der Gerichtshof darauf ausgelegt, Staatenbeschwerden zu behandeln, das heißt Klagen, bei denen ein Staat dem anderen vorwirft, die Menschenrechte im eigenen Land zu verletzen. "Dann hat man festgestellt, dass es doch relativ selten ist, dass Staaten zu so einem scharfen Mittel greifen. Die Wege der Diplomatie werden dadurch blockiert", sagt Jaeger. "2001 ist die letzte Staatenbeschwerde entschieden worden. Vor zwei Wochen ist seitdem die erste wieder eingegangen – Georgien gegen Russland, wegen der Behandlung von bestimmten Personen."

Unzufriedenheit der Bürger führt zu Klageflut

Was allerdings alles in den Akten schlummert, weiß derzeit niemand so genau, denn viele sind noch gar nicht aufgemacht. Eine dramatische Entwicklung: "1981 hatten wir 400 Eingänge, 15 Jahre später 4.000, im Jahr 2005 schon 40.000 und im Jahr 2006 rund 60.000 Eingänge. Dieser Anstieg ist - bei gleich bleibender Zahl der Richter - so unglaublich, dass man befürchten muss, dass wir den eigentlichen Anforderungen, die die Bürger zu Recht an uns stellen, nicht mehr gerecht werden können."

Woher aber kommt die Flut der Klagen, die nach Straßburg kommen? "Die Bürger in Europa werden sich ihrer Rechte bewusster", sagt Renate Jaeger, und die Unzufriedenheit mit einer Justiz, die diesen Rechten zu wenig Rechnung trägt, nehme zu. Das führe dazu, dass sich der Gerichtshof immer mehr mit Lappalien beschäftigen müsse. Abhilfe schaffen könnte zum Beispiel die bessere Qualifizierung von Richtern, wie in Großbritannien geschehen. Dort wurden Richter und Anwälte nach Erlassung des "Human Rights Act" zwei Jahre lang geschult. Das Ergebnis sei sehr gut: In jedem Gerichtsurteil würden die Menschenrechte beachtet werden, so Jaeger.

Einen weiteren Grund dafür, dass die Arbeit des Gerichtshofes in Europa noch nicht ausreichend bekannt ist, sieht die Richterin auch in den Medien. Entweder würde, wie etwa in Deutschland, überhaupt nicht oder nur selten über die Entscheidungen in Straßburg berichtet - oder es werde eher einseitig ausgewählt, so wie sie es durch den amerikanischen TV-Sender CNN erlebe: "CNN berichtet immer sehr einseitig über die Verurteilungen gegen Russland, gegen andere Staaten weniger, da agiert ein Sender politisch. Aber das, was ich gerne hätte, nämlich dass allgemein bekannt wird, was dieser Gerichtshof verlangt und zwar von den innerstaatlichen Gerichten, das geschieht nicht."

Erst ihre Durchsetzung verleiht den Menschenrechten Kraft

chen in orangenen Anzügen mit schwarzem Sack über dem Kopf stehen vor einem Plakat.Quelle: dpa
Amnesty International protestiert gegen Menschenrechtsverletzungen in GuantanamoBild: dpa

Um sich europäisch zu integrieren, bräuchten die Unterzeichnerstaaten den Europäischen Gerichtshof, so Jaeger weiter. Er sei einzigartig, denn nirgendwo sonst könnten Menschenrechte in dieser Form durchgesetzt werden. Und erst das verschaffe den Menschenrechten Gewicht und Wirksamkeit.

Um aber die Erfolgsgeschichte des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte fortsetzen zu können, muss schnell etwas geschehen, weil sonst die Institution in der Klageflut versinkt. Das 14. Protokoll soll Verfahrenserleichterung und mehr Effektivität bringen. In 45 Staaten wurde das Dokument inzwischen ratifiziert. Nur in Russland nicht. Deshalb wünscht sich die engagierte Richterin, dass dies möglichst bald geschieht. Außerdem möchte sie, "dass es in der Zivilgesellschaft und in der Politik Unterstützung für eine Erhöhung der Mittel für diesen Gerichtshof gibt, damit er weiterhin produktiv arbeiten kann."