10 Buchtipps für den Sommer
19. Juli 2015Kevin Barry: "Dunkle Stadt Bohane" – ab in die Retro-Zukunft
Jenseits der großen "Nichtsöde" liegt am gleichnamigen Fluss im Westen Irlands die wilde Stadt Bohane – angesiedelt in der Retro-Zukunft des Jahres 2053/54. Clanchef Logan Hartnett erlebt seinen Niedergang, als sein alter Feind Gant Broderick in die Stadt zurückkehrt. "Der Roman ist anti-realistisch, auf Kicks angelegt" erklärt Autor Kevin Barry in seinem Nachwort, und er hat Recht. Sprachliche (Limerick, Cork), literarische (Anthony Burgess, Cormac McCarthy, James Joyce) und mediale (HBO-Fernsehserien, Film, Comics) Einflüsse legt der Autor offen – viele sind ohnehin einigermaßen augenfällig. Wer diese Popkultur nicht mag, wird das Buch möglicherweise ablehnen – ich fand es wegen seiner sprachlichen Kreativität ungeheuer unterhaltsam. Übersetzer Bernhard Robben ist eine deutsche Fassung gelungen, die die Neologismen, Altertümeleien und Lyrizismen des Originals mitsamt seinem Slang, Dialekt, Gossenjargon und Newspeak so überträgt, dass man sich nie nach dem Englischen fragt. Ein lustvolles, düster-komödiantisches Literaturkunststück sowohl des Autors und wie auch seines Übersetzers.
* Der Tipp von Sabine Peschel: Kevin Barry, "Dunkle Stadt Bohane", aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Robben, Klett-Cotta, 2015, 304 Seiten
Hans Fallada: "Damals bei uns Daheim" – eine Wiederentdeckung
Wer hatte stets das letzte Wort am Küchentisch? Warum lagen eigentlich im Urlaub immer die Nerven blank? Und warum erkannte Vater nicht, dass ich trotz seines Drängens nie Musiker werden wollte? Hans Fallada, geboren als Rudolf Ditzen, wirft mit seinen autobiografischen Kindheitserinnerungen "Damals bei uns Daheim" Fragen auf, die sich im Alltag heutiger Leser noch in ähnlicher Weise stellen können.
Genau diese Alltäglichkeit hält den Spannungsbogen der Erzählung - ein Stück Literatur, das neben Fallads größtem literarischen Erfolg "Kleiner Mann, was nun?" immer in den Hintergrund getreten ist. Strandurlaub in den Ostseedünen, die Großmutter, die sich weigert mit der "ausländischen" friesischen Verwandtschaft zu sprechen oder der großstädtische Berliner Trubel der Wilhelminischen Zeit – das sind Schilderungen und Schauplätze des Alltagslebens im frühen 20. Jahrhundert, die viel Zeitkolorit in sich tragen.
Falladas lebhafte, detaillierte Beschreibungen seiner Kindheit bieten viel Anreiz, sich zurückzulehnen und auf die eigene Lebens- und Familiengeschichte zurück zu blicken. Die passende Lektüre, um über hunderte Seiten hinweg in Erinnerungen zu schwelgen – in persönlichen und in denen von Hans Fallada.
* Der Tipp von Christoph Trost: Hans Fallada, "Damals bei uns Daheim" erschien erstmals 1941, letzte Neuausgabe Aufbau Verlag 2001, 369 Seiten
Thomas Gottschalk: "Herbstblond" – der Sound vergangenen Entertainments
Er hat nicht nur die deutsche Fernsehlandschaft revolutioniert, er lebt auch zeitweise in meiner kalifornischen Heimat. Die Rede ist natürlich von Deutschlands bekanntestem TV-Gesicht, Thomas Gottschalk. Als Fernsehmoderatorin und "California Native" war ich neugierig auf seine Autobiographie "Herbstblond". Und Gottschalk bestätigt die Befürchtung eines jeden, der vom großen Ruhm träumt: Man muss tatsächlich zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort sein. Er kam genau in dem Moment auf den Fernsehbildschirm, als Deutschland bereit war für einen extravagant gekleideten Showmaster und eine fest verabredete Sendezeit am Samstagabend. Er ist Zeuge und Protagonist einer historischen TV-Epoche hierzulande, die längst vorbei ist. Seine Beschreibungen eines Prominenten-Lebens – inklusive diverser Treffen mit Präsidenten und Rockstars und einer leichten Sucht nach luxuriösen Strandvillen – wirken zwar etwas arrogant, sind aber keine Übertreibungen. Wer ein wenig Narzissmus aushalten kann, wird in dieser Autobiographie viel über die deutsche Unterhaltungsgeschichte lernen – und ein einmaliges Erfolgsrezept finden, das heutzutage so nicht mehr funktionieren würde.
* Der Tipp von Kate Müser: Thomas Gottschalk, "Herbstblond", Heyne Verlag, 2015, 368 Seiten
Emmanuelle Bayamack-Tam: "Wenn mit meiner Unschuld nicht alles vor die Hunde ging" – rebellische Identitätssetzung
Was für ein schräger Adoleszenz-Roman mit supercoolem Erzählgestus! Die dritte Tochter einer südfranzösischen Großfamilie berichtet aus der Ich-Perspektive, was es heißt, mit einer Mutter aufzuwachsen, die mal eben künstlerische Stripperin wird. In einer Familie, in der alle fröhlich und vergnügt und die Tage so sonnendurchflutet wirken, dass keiner merkt, wie hoffnungslos die Kinder sich selbst überlassen bleiben. Die Erzählung wird atemlos, die Handlung ufert aus: Der kleine Bruder erhängt sich, die Ich-Erzählerin selber fängt an, sich zu prostituieren und entdeckt ihre leidenschaftliche lesbische Erotik – während man doch irgendwo früh im Roman schon gelesen hat, dass sie als Anfang-Zwanzigjährige bereits verheiratet ist und zwei Kinder hat. Trotzdem, der nonchalante Erzählton trägt und täuscht über sich beiläufig auftuenden Abgründe an Trauer, Vereinsamung und Vernachlässigung hinweg. Ein Coming-of-Age-Roman, den ich wegen der trügerischen Souveränität seines Grundtons empfehle.
* Der Tipp von Sabine Peschel: Emmanuelle Bayamack-Tam, "Wenn mit meiner Unschuld nicht alles vor die Hunde ging", aus dem Französischen übersetzt von Christian Ruzicska und Paul Sourzac, Secession Verlag, 2014, 345 Seiten
Sara Gran: "Dope" – New Yorker Unterwelt der 50er Jahre
"Die Stadt der Toten" von Sara Gran war kurz nach Erscheinen noch ein Geheimtipp. Ich habe den Krimi sofort verschlungen und und wollte mehr lesen über Claire DeWitt, "die beste Ermittlerin der Welt", wie die Autorin ganz unbescheiden auf ihren ersten Band schreibt. Als 2013 der nächste DeWitt-Fall erschien ("Das Ende der Welt") bekam ich vermutlich einen der ersten Bände überhaupt aus dem Buchladen, las ihn - und war glücklich. Und seitdem warte ich sehnsüchtig auf eine Fortsetzung der Kriminalfälle dieser unkonventionellen, verrückten Frau. Ein wenig Trost soll mir als Urlaubslektüre Sara Grans aktuelles Buch spenden: "Dope", ein auf Deutsch erschienener Roman mit der Kleinkriminellen Josephine als Romanfigur. Sie versucht im Jahr 1950 kurz entschlossen in New York City als Privatdetektivin ihr Glück. Und ich hoffe auf lustvolle Lesestunden im Liegestuhl.
* Der Tipp von Klaudia Prevenzanos: Sara Gran, "Dope", aus dem Englischen von Eva Bonné, Droemer Knaur, 2015, 256 Seiten
Reinhold Messner: "Absturz des Himmels" – der Wettlauf zum Matterhorngipfel
Wer dachte, über das Matterhorn und seine Erstbesteigung sei schon alles gesagt und geschrieben worden, täuscht sich. Der Südtiroler Extrembergsteiger und Buchautor Reinhold Messner hat sich dieses Stoffes angenommen, der bis heute nichts an Dramatik eingebüßt hat. Bis zum 14. Juli 1865 ist der 4478 Meter hohe markante Berg der letzte noch nicht bestiegene große Gipfel der Alpen. An diesem Tag findet ein Kampf ums Matterhorn statt: Dem Engländer Edward Whymper und seinen drei Freunden sowie drei einheimischen Bergführern gelingt der Triumph über den Gipfel. Doch kurz nach Beginn des Rückwegs stürzen vier der sieben Männer in den Tod, weil eines der Seile reißt.
Zeitgleich versucht an diesem Tag eine italienische Seilschaft unter der Führung des erfahrenen Bergsteigers Jean-Antoine Carell von der italienischen Südseite aus den Aufstieg. Diese Männer brechen ihr Vorhaben ab, als sie, fast am Ziel, die andere Gruppe auf dem Gipfel bemerken. Reinhold Messner hat für seinen Tatsachenroman "Absturz des Himmels" die wichtigsten Zeitdokumente gesichtet und verarbeitet. Er legt deshalb den Fokus des Romans auf das Verantwortungsbewusstsein und die Verlässlichkeit der beiden Führungspersonen Whymper und Carell. Als einer der Besten seiner Gilde weiß Messner aus eigenem Erleben, wie es sich rund um das Bergsteigen mit Abgründen, Triumph und Drama, Sieg und Niederlage verhält. Deshalb versteht er es auch, all dies sprachlich anspruchsvoll und packend in die Handlung einzuweben. "Absturz des Himmels" – ein Buch, für das ich im vollsten Koffer noch einen Platz finden würde.
* Der Tipp von Klaus Krämer: Reinhold Messner, "Absturz des Himmels", S. Fischer Verlag, 2015, 288 Seiten mit zahlreichen Bildern und Fotos
Carl Nixon: "Lucky Newman" – geschickte Einmischung
Der Autor übernimmt in diesem Roman die Rolle des Chronisten einer seltsamen Familiengeschichte, in der wiederum andere märchenhafte Geschichten erzählt werden. Aus dem neuseeländischen Christchurch des Jahres 2008 geht es zurück zur einer Stunde Null, das Jahr 1919, in dem die Krankenschwester Elizabeth Whitman vergeblich auf die Rückkehr ihres Mannes aus dem Ersten Weltkrieg wartet.
Die zentrale Story wäre schnell erzählt, ist aber besser gelesen. Zu einem empfehlenswerten Werk wird dieser dritte Roman des jungen neuseeländischen Autors durch die geschickte Einmischung eines schwer fassbaren Erzählers. Seine zeitlichen Vor- und Rückblenden, Kommentare, direkten Leseransprachen wirken angenehm verwirrend, keinesfalls plump oder lästig, und sie machen das Buch zu einer vielschichtigen, faszinierenden Lektüre. Die ausgezeichnete Übersetzung hat das Spiel zwischen den Zeitebenen und Perspektiven wunderbar ins Deutsche gerettet.
* Der Tipp von Sabine Peschel: Carl Nixon, Lucky Newman, aus dem Englischen übersetzt von Stefan Weidle und Ruth Keen, Weidle Verlag, 2015, 280 Seiten
Robert Seethaler: "Der Trafikant" – ein Buch der leisen Töne
Mit diesem Roman gelang Robert Seethaler der Durchbruch im deutschsprachigen Raum. Er erzählt die Geschichte des 17-jährigen Franzl, der sein Heimatdorf verlässt und in Wien Lehrling in einer Trafik, einem Tabak- und Zeitungsgeschäft, wird. Zu den Stammkunden gehört auch "der Professor" Sigmund Freud, mit dem Franzl bald eine ungewöhnliche Freundschaft pflegt. Als er sich unglücklich in die Varietétänzerin Anezka verliebt, fragt der Lehrling selbstverständlich den älteren Professor um Rat. Aber selbst Sigmund Freud muss gestehen, dass auch ihm die Frauen ein Rätsel sind. Dann kommt das Jahr 1938 und der Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland. In Wien werden die Juden aus der Stadt geprügelt, der Professor flieht nach London, Otto, Trafikant und Ziehvater, wird von der Gestapo verhaftet und Franzl wird der neue Trafikant. Fast beiläufig und mit einer schnörkellosen, knappen Sprache erzählt Seethaler vom Erwachsenwerden, von der Psychoanalyse, von den Nazis, dem Terror und von Feigen und Mutigen. Ein kleines Buch mit großer Wirkung – ideal fürs Handgepäck, aber auch für den großen Koffer.
* Der Tipp von Angela Müller: Robert Seethaler, "Der Trafikant", Verlag Kein & Aber, 2012, 256 Seiten
Robert Seethaler: "Ein ganzes Leben" – ein tief bewegendes Buch
Als Andreas Egger in das Tal kommt, in dem er sein Leben verbringen wird, ist er vier Jahre alt, ungefähr – so genau weiß das keiner. Er wächst zu einem gestandenen Hilfsknecht heran und schließt sich als junger Mann einem Arbeitstrupp an, der eine der ersten Bergbahnen baut und mit der Elektrizität auch das Licht und den Lärm in das Tal bringt. Dann kommt der Tag, an dem Egger zum ersten Mal vor Marie steht, der Liebe seines Lebens, die er jedoch wieder verlieren wird. Erst viele Jahre später, als Egger seinen letzten Weg antritt, ist sie noch einmal bei ihm. Und er, über den die Zeit längst hinweggegangen ist, blickt mit Staunen auf die Jahre, die hinter ihm liegen. Eine einfache und tief bewegende Geschichte.
* Der Tipp von Stefan Dege: Robert Seethaler, "Ein ganzes Leben", Hanser Berlin, 2014, 160 Seiten
Tan Twan Eng: "Der Garten der Abendnebel" – die vergebliche Suche nach Wahrheiten
Der Roman des malayischen Schriftstellers Tan Twan Eng spielt am Ende der japanischen Besatzung Malaysias. Zentral ist das Schicksal der chinesisch-malaysischen Richterin Teoh, die während des 2. Weltkriegs als junge Frau in einem japanischen Arbeitslager interniert war. Nach Kriegsende geht sie bei einem ehemaligen Hofgärtner des Kaisers, der im damaligen Malaya verblieben ist, durch die hochphilosophische Schule der japanischen Gartenkunst. Was durch die Themensetzung von Schuld und Ästhetik, Geheimnis und Erinnerung, Schweigen und Verdrängung nach schwerem Stoff aussieht, liest sich durch die geschickte Konstruktion des Romans und die persönlich fokusierte Erzählperspektive leichthin. Eine literarische Geschichtsstunde zum konfliktträchtigen kolonialen und ethnischen Erbe in Asien, die man voller Interesse gern aufsaugt. Kein Wunder, dass der Autor für das englische Original 2012 den "Man Asian Literary Prize" für das beste Buch eines asiatischen Schriftstellers erhielt.
Der Tipp von Sabine Peschel: Tan Twan Eng, "Der Garten der Abendnebel", aus dem Englischen übersetzt von Michael Grabinger, Droemer Knaur, 2015, 464 Seiten
Viel Vergnügen bei der Sommerlektüre!