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GesellschaftDeutschland

60 Jahre Contergan-Skandal: "Wir leben noch"

27. November 2021

Eine einzige Tablette in der Schwangerschaft reichte: Etwa 10.000 Kinder kamen weltweit mit schweren Fehlbildungen zur Welt, viele starben. 1961 nahm die Firma Grünenthal Contergan vom Markt. Überlebende berichten.

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Eine blonde Frau im weißen T-Shirt mit Brille sitzt in einer Wintergarten am Tisch und lächelt in die Kamera. Sie hat verkürzte Arme mit Händen, die nach innen abgeknickt sind
"Geht nicht, gibt's nicht. Erst wird probiert" - dieses Motto hat Gunhild Krämer-Kornja von ihrer Mutter übernommenBild: Andrea Grunau/DW

April 1962: Hausgeburt bei den Kornjas in Allendorf, Gunhild ist das dritte Kind. Die Hebamme zeigt der Mutter nur das Köpfchen. Ihr Baby hat verkürzte Arme, an jeder Hand vier Finger, teils festgewachsen, der Darmausgang liegt seitlich an der Hüfte. Der herbeigerufene Arzt ist nicht sicher, "wie lange das Kind noch lebt". Paten und Pastor werden herbei geholt zu einer Not-Taufe im Wohnzimmer.

An einem Tisch sitzen mehrere Kinder im Kleinkindalter vor ihren Tellern und Bechern, ein Mädchen steht an einer Tischecke. Bei einem Kind ganz vorne sieht man, dass es stark verkürzte Arme hat
Monatelang war Gunhild Krämer-Kornja (stehend) von ihren Eltern getrennt. In dieser Reha-Einrichtung übte sie auch, mit beiden Händen zu essen oder mit den Füßen einen Stift zu haltenBild: privat

Es folgen viele Operationen und lange Monate in einer Reha-Einrichtung weit weg von zuhause. Dann besucht Gunhild als erstes Kind mit Behinderung die Schule im Ort. Der Hausmeister baut ein Pult für ihre Armlänge. "Geht nicht, gibt's nicht", ist das Motto ihrer Mutter, "erst wird probiert". Gunhild fährt Rad und Roller, fällt hin, steht auf.

In der Pubertät hadert sie mit ihrem Körper und den kurzen Armen. Sie hat düstere Gedanken, schluckt in einem Krisenmoment Tabletten. Alles geht gut: Ihr wird nur furchtbar schlecht. Hingefallen, aufgestanden. Sie lernt Kampfsport, erringt im Jiu Jitsu den braunen Gürtel. 23 Jahre arbeitet sie auf dem Standesamt, bekommt eine Tochter, heiratet.

Blick in eine Sporthalle: Ein Mann im weißen Kampfanzug mit dunklem Gürtel liegt flach am Boden, eine Frau, ebenfalls im weißen Anzug hockt neben seinem Kopf, ihr angewinkeltes Bein liegt über seinen Schultern. Im Hintergrund sitzen zwei Männer an einem Tisch und schauen zu
Im Jiu-Jitsu-Training legte Gunja Krämer-Kornja auch Gegner mit langen Armen auf die Matte - sie nahm an vielen Wettkämpfen teilBild: privat

Ihr Körper muss ständig mehr leisten, um die Armlänge auszugleichen. Sie muss sich drehen, vor-, zurück- und tief hinunterbeugen, wo jemand mit langen Armen mal eben über den Tisch greift, einen Pulli überzieht, etwas ins Regal stellt oder vom Boden aufhebt, auch wenn sie die Füße zu Hilfe nimmt.

Gunhild Krämer-Kornja schont sich nicht. Überlastung und Verschleiß lösen starke Schmerzen aus. Mit 38 muss sie in Rente gehen, hat eine schwere Darm-OP. Sie engagiert sich als Ortsvorsteherin, bringt unzähligen Kindern das Schwimmen bei und schreibt ein Buch über ihr Leben mit Contergan.

Contergan – 60 Jahre Leben mit den Folgen

"Verabschiedet euch"

September 1961: Glückwunsch zur Geburt? Nein. Zu Klaus Michels Eltern sagen die Ärzte in Unna: "Der Junge überlebt nicht lange. Verabschiedet euch." 60 Jahre ist "der Junge" jetzt. Im DW-Interview kommen Klaus Michels die Tränen: "Das hat meine Mutter mir erst erzählt, als ich aus der Pubertät raus war."

Drei Wochen nach der Geburt fahren die Eltern an der Klinik vor. Der Arzt will das Kind nicht hergeben, die Mutter reißt ihm ihren Sohn vom Arm, holt ihn nach Hause. Eine starke Frau, sagt Michels. Er besucht Schulen und eine Ausbildungsstätte für Menschen mit Behinderung. Dann arbeitet er am Computer, bis zum Burnout. Erfolgreich bekämpft er eine Suchterkrankung.

Ein Mann mit Brille in grauem Jackett blickt nachdenklich nach vorne
Nach seiner Geburt mit Contergan-Schädigung wollten ihn die Ärzte zum Sterben im Krankenhaus behalten - heute ist Klaus Michels 60 Jahre alt Bild: Andrea Grunau/DW

Früh verrentet, engagiert er sich in der Kirchengemeinde und der Schule seines Sohnes. Er spielt Tuba - "das ist herrlich" - und macht viel Sport. Im Vorstand des Bundesverbands Contergangeschädigter will er sich für eine bessere medizinische Versorgung einsetzen.

In ein Gipskorsett gezwängt

Mai 1962: "Ist alles dran?", fragt Gisela Weinert, als sie in der Kölner Klinik den ersten Schrei ihrer Tochter Claudia hört. Sie bekommt keine Antwort. Claudia hat kurze Arme. Das Personal der Entbindungsstation läuft herbei, um sie zu sehen. Die Mutter ärgert sich: "Aber meine Tochter guckte mich mit klaren Augen an: Hier bin ich."

Zwei Frauen sitzen abends eng nebeneinander und lächeln: Die jüngere trägt eine leuchend rote Bluse und eine zweifarbige Brille, man sieht, dass ihr Arm stark verkürzt ist, die ältere trägt eine hellblaue Weste und ein leuchtendes Halstuch. Im Hintergrund ist ein langer Tisch zu sehen mit Kerzen, Tellern, Gläsern und Flaschen
Ihren klaren Blick und die Tatkraft bewundert Gisela Weinert bei ihrer Tochter Claudia Weinert-HettmerBild: Andrea Grunau

Claudia muss immer wieder zur Reha nach Heidelberg, schon bei der Anreise ist ihr schlecht vor Angst. Sie erinnert sich an "riesige Räume mit 20 Gitterbettchen". In ein Gipskorsett gezwängt, wird sie auf dem Rücken liegend angeschnallt, später mit schweren Prothesen traktiert: "Die Quälereien waren massiv, auch psychisch."

Ihre Eltern dürfen sie nur abgeben. Sie weinen, wenn sie zu Claudias Geschwistern nach Hause zurückkommen, eine schwere Zeit für die ganze Familie. Nach Claudias Rückkehr siezt sie ihre Eltern: "Ich dachte, sie wollten mich nicht mehr."

Zuhause in Köln besucht Claudia erst Schulen für Kinder mit Behinderungen, viele haben Contergan-Schäden. Sie wechselt aufs Gymnasium, macht Abitur, studiert und arbeitet an der Universität. Alleinerziehend versorgt sie ihren Sohn Malte. Claudia Weinert-Hettmer arbeitet als Sonderschul-Pädagogin.

Contergan: Empfohlen für Säuglinge und Schwangere

Gunhild, Klaus und Claudia sind drei von geschätzt 5000 Kindern in Deutschland und 10.000 weltweit, die mit Fehlbildungen geboren wurden. Ihre Mütter hatten das rezeptfreie Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan der Firma Grünenthal mit dem Wirkstoff Thalidomid eingenommen, im Ausland hatten die Medikamente andere Namen. Vier bis fünf von zehn Kindern starben kurz nach der Geburt. Wie viele Fehl- und Totgeburten es gab, ist unbekannt.

"Harmlos wie ein Zuckerplätzchen", so wurde Contergan angepriesen, sogar für Säuglinge und Kleinkinder wurde es empfohlen - und gegen Übelkeit in der Schwangerschaft. Ein Verkaufsschlager im In- und Ausland.

Aufnahme einer geöffneten Tablettenschachtel, zwei weiße Tabletten liegen daneben. Auf dem unteren Teil der Packung steht: "Zur Beruhigung u. Entspannung", der Deckel liegt daneben. Darauf steht "24 Tabletten. Contergan. Sedativum" und das Logo der Firma Grünenthal
Auch für Säuglinge und Kleinkinder wurde Contergan "zur Beruhigung und Entspannung" empfohlenBild: picture-alliance/Joker

Medikamente mit Thalidomid wurden von Grünenthal, Partnern und Lizenznehmern in über 70 Ländern offiziell verkauft, stellte ein Forschungsbericht der Universität Münster fest. Es gab auch unerlaubte Nachahmer-Produkte, betont Grünenthal. In den USA lehnte die zuständige FDA die Zulassung ab. Eine entsprechende Zulassungsbehörde gab es in Deutschland nicht.

Den Wirkstoff hatte Grünenthal in Tierversuchen getestet. Strenge Vorschriften für Arzneimittel-Zulassungen gab es nicht, ein solches Gesetz trat erst 1978 in Kraft - als Lehre aus dem Contergan-Skandal. Contergan kam 1957 in den Handel, Ärzte beobachteten zunächst Nervenschäden bei Erwachsenen, seit 1959 eine Zunahme von Fehlbildungen bei Kindern. Die Fälle häuften sich, es gab immer mehr Rückfragen beim Hersteller.

Ärzte recherchieren, Grünenthal droht

Ein australischer Arzt informierte die britische Lizenzfirma Distillers. Parallel recherchierte der Hamburger Kinderarzt Widukind Lenz. Er informierte Grünenthal am 15. November 1961 über seinen Verdacht. Im Gespräch mit den Behörden mehr als eine Woche später weigerte sich die Firma, Contergan zurückzuziehen, so steht es in den Akten.

Zwei Frauen in Mantel und Hut laufen an einem Gebäude vorbei, auf dem zu lesen ist: "Chemie Grünenthal GmbH"
Die Firma Grünenthal weigerte sich zunächst, das Medikament vom Markt zu nehmen, und drohte für den Fall eines Verkaufsverbots mit Schadenersatzforderungen (Aufnahme aus den 1960er Jahren)Bild: Schnörrer/dpa/picture-alliance

Stattdessen eine Drohung: Bei einem Verkaufsverbot werde man das zuständige Ministerium haftbar machen. Am 26.11. berichtete die "Welt am Sonntag" über den Verdacht, am 27. November erfolgte die Marktrücknahme. In manchen Ländern ging der Verkauf monatelang weiter.

Wut und Schuldgefühle

Für viele kam die Rücknahme zu spät, auch für Claudia, die Tochter von Gisela Weinert. Eine "Sauwut" habe sie, sagt die Mutter: "Bei meiner Tochter stand fest, dass es Schädigungen gab. Man hat es nicht veröffentlicht."

Eine Frau mit gelockten kurzen grauen Haaren und Falten im Gesicht schaut mit gerunzelter Stirn und besorgtem Blick nach vorn. Es ist eine Aufnahme aus dem Film "Stimmen gegen das Vergessen - Contergan". Oben rechts ist eine Gebärdensprachdolmetscherin eingeblendet
Auch wenn sie die Gefahr von Contergan nicht ahnte: Gisela Weinert hat immer noch Schuldgefühle, so geht es vielen MütternBild: Rainer Jagusch/Interessenverband Contergangeschädigter Nordrhein-Westfalen e.V.

Sie ahnte nicht, wie gefährlich die Tabletten waren, die Ärzte und Apotheker empfohlen hatten. Trotzdem hat sie Schuldgefühle: "Hätte ich sie nicht genommen, wäre es nicht passiert." Noch heute melden sich Betroffene, sagt Rechtsanwältin Karin Buder der DW, deren Mütter aus Scham erst auf dem Totenbett von der Contergan-Einnahme erzählen.

Claudia Weinert-Hettmer sieht keine Schuld bei ihrer Mutter. Denen, die etwas hätten ändern können, wünschte sie, "einen Tag wie ich zu leben": angestarrt werden und auf der Toilette wildfremde Menschen bitten müssen, die Hose rauf und runter zu ziehen, weil die Kordel am Reißverschluss abgerissen ist.

1968 begann ein Strafprozess gegen leitende Grünenthal-Mitarbeiter. Die neun Angeklagten wurden von 20 Anwälten vertreten, "der absoluten Elite der deutschen Strafverteidiger", stellt der Forschungsbericht aus Münster fest.

Schwarzweiß-Aufnahme aus dem Contergan-Prozess: Links sitzen hinter einem langen Tisch mit Mikronen viele Männer in dunklen Roben, dahinter sind weitere Männer in Anzügen zu erkennen. Alle blicken zum Richtertisch, der im rechten Winkel dazu ganz weit im Hintergrund zu erkennen ist
Mai 1968: Erster Verhandlungstag beim Contergan-Prozess. Die Angeklagten der Firma Grünenthal (ganz li.) müssen sich wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung verantworten Bild: Heinz Wieseler/UPI/picture alliance

1970 wurde der Prozess ohne Urteil eingestellt. Man hatte sich vorher auf eine Entschädigungszahlung geeinigt. Viele Familien, Nebenkläger im Prozess, brauchten dringend Unterstützung, für ihre Ansprüche drohte Verjährung.

Conterganstiftung: Zahlungen an Überlebende in über 40 Ländern

100 Millionen DM zahlte Grünenthal, 100 Millionen die Bundesregierung in die neue Stiftung zur Unterstützung der Contergan-Opfer. Sie verloren das Recht auf Klagen gegen Grünenthal. 1997 war das Geld aufgebraucht.

Etwa 1,8 Milliarden Euro hat die Bundesregierung bislang für Entschädigungen aufgewendet, teilte die Conterganstiftung der DW mit. Grünenthal zahlte 2009 einmalig weitere 50 Millionen Euro ein. In Deutschland leben nach Auskunft der Conterganstiftung noch über 2200 Betroffene, die Renten und jährliche Sonderzahlungen erhalten. Gezahlt wird auch an mehr als 280 Betroffene in 42 Ländern auf der ganzen Welt: von Ägypten und Australien über Belgien, Brasilien, Irland, Mexiko, Syrien und Thailand bis zu den USA, wo vor der FDA-Ablehnung Tests stattgefunden hatten. In anderen Ländern erhalten Betroffene Geld von den Pharmaunternehmen, die dort Thalidomid vertrieben haben, oft unterstützt von den Regierungen.

"Stimmen gegen das Vergessen - Contergan"

Die Selbsthilfeverbände nutzen den 60. Jahrestag der Marktrücknahme, um über ihr Leben und ihre Anliegen zu sprechen. Zu einem großen "Lebensfest" lud der Interessenverband Contergangeschädigter Nordrhein-Westfalen (NRW) nach Köln ein. In NRW leben noch rund 800 Menschen mit Contergan-Schäden. Das Signal: "Wir leben noch!"

Auf einem roten Teppich stehen dicht nebeneinander vier lächelnde Menschen, zwei Frauen, zwei Männer, die für den Fotografen am linken Bildrand posieren
Bianca Vogel (2.v.l.) auf dem roten Teppich beim Lebensfest für Menschen mit Contergan-Schädigung und ihre Angehörigen in KölnBild: Andrea Grunau

Höhepunkt am ersten Abend ist der Dokumentarfilm "Stimmen gegen das Vergessen - Contergan": Betroffene, Eltern und Wegbegleiter schildern ihre - teilweise traumatischen - Erfahrungen. Viele Zuschauer nicken nachdenklich. Bianca Vogel sagt: "Viele Eltern waren sehr mutig. Sie haben Inklusion vorgelebt." Sie ergänzt: "Wir haben uns auch durchgebissen."

Für die eigenen Rechte kämpfen

Februar 1961: Eine einzige Tablette Contergan hatte Bianca Vogels Mutter in der Schwangerschaft genommen. Nach der Entbindung ihrer Tochter spricht der Arzt von einer "Missgeburt". Der Nationalsozialismus liegt erst 16 Jahre zurück: In Deutschland und den besetzten Gebieten hatte man Menschen mit Behinderungen systematisch ermordet. "Dich hätten sie am besten vergast", bekam Claudia Weinert mit 15 Jahren zur Antwort, als sie nach der Uhrzeit fragte.

Zwei Frauen sitzen am Tisch eines Ausflugslokals. Die jüngere Frau neigt sich der älteren Frau zu. Die  Arme der jüngeren enden nicht weit unterhalb der Schultern
Bianca Vogel (li.) mit ihrer - kürzlich verstorbenen - Mutter Annemie Bertoldi. Eine einzige Tablette Contergan hatte sie in der Schwangerschaft eingenommenBild: privat

"Meine Mutter hat mich nie versteckt", sagt Bianca Vogel, obwohl es in Sinzig am Rhein, wo sie aufwuchs, auch böse Blicke gab und Gerede von einer "Strafe Gottes". Heute weiß man, dass einige Eltern ihre Kinder im Kohlenkeller versteckten oder bei Tieren im Stall.

Bianca Vogel lernte reiten und arbeitete 30 Jahre als Erzieherin. Sie wurde Weltmeisterin im Behinderten-Dressursport, nahm an den Paralympischen Spielen in Atlanta, Sydney und Athen teil und gewann zweimal Silber.

Eine Frau mit blondem Zopf sitzt auf einem schwarzen Pferd, das den Kopf mit weißer Blesse leicht geneigt hält. Ein Mann steht vor den beiden und schaut zu ihr auf. Beide haben kurze Arme.  Aufnahme aus dem Film NoBody's Perfect von Niko von Glasow
NoBody's Perfect 2008: Als Niko von Glasow Dressurreiterin Bianca Vogel fragte, ob sie sich für seinen Film über Menschen mit Contergan-Schädigung auch ausziehen würde, stimmte sie sofort zuBild: Ventura Film/Everett Collection/imago images

Der Spielfilm "Eine einzige Tablette" (2007), gegen dessen Ausstrahlung Grünenthal vergeblich klagte, und eine Begegnung mit Thalidomid-Geschädigten aus Großbritannien, die erfolgreich für ihre Rechte kämpften, rüttelten sie auf. 

Bianca Vogel beteiligte sich an Demonstrationen - erst bei der Firma Grünenthal, dann in Berlin, um Politiker zu überzeugen. Bei einer Anhörung im Bundestag forderte sie eine bessere Versorgung für die Opfer der Contergan-Katastrophe. Die Renten wurden erhöht. Mittlerweile können die Ansprüche nicht mehr nachträglich aberkannt werden.

Blick auf ein grünes Plakat mit englischer Aufschrift, übersetzt lautet sie: "Thalidomid: Jetzt muss die deutsche Regierung verhandeln". Es ist eine Aufnahme aus dem Film "Stimmen gegen das Vergessen - Contergan"
Die Proteste der Betroffenen richteten sich erst gegen den Contergan-Hersteller Grünenthal, später gegen die Bundesregierung. Thalidomid-Betroffene aus Großbritannien und Deutschland schlossen sich zusammenBild: Rainer Jagusch/Interessenverband Contergangeschädigter Nordrhein-Westfalen e.V.

Organe wie Puzzleteile

Verkürzte oder fehlende Arme und/oder Beine fielen sofort auf. Viele Contergan-Schäden wurden später entdeckt: am Gehör, den Augen, an Herz, Darm, Nieren, Nerven oder Gefäßen, die anders verlaufen als gewöhnlich - ein Risiko bei Operationen. Verschleißerscheinungen durch Fehl- und Überlastungen sind untersucht, eine Gefäß-Studie soll folgen.

Gunhild Krämer-Kornja sagt: "Bei mir sind die inneren Organe wie Puzzleteile - alle da, aber nicht, wo sie hingehören." Sie wurde zigmal operiert, erstmals mit drei Monaten, als der Darm an die richtige Stelle verlegt wurde. Ihre Nieren liegen im Becken. Als sie schwanger wurde, wachten die Ärzte darüber, dass die Nieren nicht gestaucht wurden, und planten einen Kaiserschnitt. Sie selbst hoffte vor allem, dass bei ihrem Kind alles in Ordnung ist: "Da war so eine gewisse Angst." Tochter Laura war gesund.

Blick auf ein Hochzeitsbild: Der Mann mit dunklem Haar und Vollbart trägt ein weißes Jackett, die Frau ein weißes Brautkleid und einen weißen Kranz im Haar und Blumen im Arm. Der Mann hält ein Baby auf dem Arm in einem weißen Anzug mit rosa Schleife
Als Gunhild Krämer-Kornja schwanger wurde, machte sie sich Sorgen, ob ihr Kind gesund zur Welt kommtBild: Andrea Grunau/DW

Mit Contergan-Schäden kennen sich immer weniger Ärzte aus, das fängt schon beim Pulsmessen an, wenn Arme und Beine fehlen. Man geht von vielen Fehlbehandlungen aus. Die Conterganstiftung fördert bisher vier Kompetenzzentren in Deutschland. Wissenschaftler weisen darauf hin, dass sehr viele Betroffene unter psychischen Folgen leiden. Bei der Entschädigung werden sie nicht anerkannt.

Nach 60 Jahren: Entschuldigung der Eigentümerfamilie Wirtz

"Die Contergan-Tragödie wird stets Teil der Unternehmensgeschichte sein", betont Grünenthal heute. 2011 wurde die Grünenthal-Stiftung gegründet. Auf Antrag unterstützt sie Umbaumaßnahmen von Autos, Küchen oder Bädern und finanziert Assistenzkräfte für Reisen. In zehn Jahren erhielten 700 Betroffene Zuschüsse.

2012 bat Grünenthal-Vorstandschef Harald Stock Betroffene und ihre Mütter um "Entschuldigung, dass wir fast 50 Jahre lang nicht den Weg zu Ihnen von Mensch zu Mensch gefunden haben." War das alles? Nichts falsch gemacht beim Umgang mit den Folgen von Contergan? Viele Betroffene waren enttäuscht.

Contergan-Opfer kritisieren Entschuldigung

Als die Zeitschrift "Wirtschaftswoche" später fragte, ob er nachbessern wolle, verneinte Stock: "Wir können uns nur für etwas entschuldigen, wenn wir glauben, auch schuldig zu sein."

Am Jahrestag richtete sich überraschend Michael Wirtz aus der Eigentümerfamilie von Grünenthal an die Betroffenen. Für den "gesamten Inhalt dieser Zeit von 60 Jahren" entschuldige er sich im Namen der ganzen Familie, sagte Wirtz in einem Video-Interview, das bei einem Symposium des Bundesverbands Contergangeschädigter ausgestrahlt wurde.

Wirtz sagte, die Betroffenen erwarteten, dass sich die Eigentümer äußerten und "nicht versteckt hinter einer juristischen Person der Grünenthal GmbH". Das tue er "hiermit in aller Offenheit und hochoffiziell unter Zeugen, dass ich mich für diese Thematiken, die sich bei Ihnen in all' Ihren Familien abgespielt haben, ausdrücklich entschuldige".

Wut oder Mut?

Wie steht Gunhild Krämer-Kornja dazu? "Die Firma Grünenthal hat's verbockt, hat die Tablette rausgebracht, die hätte vielleicht früher vom Markt genommen werden können. Geld regiert die Welt."

Für ihr Leben heute aber sei sie selbst zuständig: "Ich mache Sport, gehe schwimmen, bin in Vereinen, habe viele Freunde." Grünenthal helfe, wenn sie einen besonderen Türgriff oder eine andere Küche brauche. Contergan dürfe niemals vergessen werden.

Ein blonde Frau im weißen T-Shirt steht in der einladend geöffneten Haustür. Ihre Hand mit vier Fingern hält den Türgriff
Gunhild Krämer-Kornja öffnet gerne ihre Tür für Gäste. Ein Sensor am Türgriff reagiert auf alle Finger. Die Grünenthal-Stiftung beteiligte sich an den KostenBild: Andrea Grunau/DW

Keine Wut? "Das lasse ich nicht mehr zu. Sollen die anderen die Magengeschwüre kriegen, ich nicht." Ihr Mann starb vor fünf Jahren, letztes Jahr hatte sie Hautkrebs, wurde dreimal am Auge operiert.

Was macht ihr Mut? "Das Leben. Meine Enkeltochter aufwachsen zu sehen." Ihre Devise bei Schicksalsschlägen: Hinfallen, aufstehen und weitergehen.

Der mühsame Alltag - Leben mit Contergan-Schäden