1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Gesellschaft

Jodtabletten für den GAU

Sandro Schroeder
1. September 2017

Nur 70 Kilometer trennen Aachen vom Atomkraftwerk Tihange in Belgien. Viele Bürger sind besorgt, fürchten einen Nuklearunfall. Ab sofort verteilen die Behörden vorsorglich Jodtabletten. Von Sandro Schroeder, Aachen.

https://p.dw.com/p/2j9v9
Belgien Atomkraftwerk Tihange
Bild: picture alliance/dpa/O. Berg

Aachen: Jod als "Beruhigungspille" gegen Tihange

Misstrauisch schaut man in der westdeutschen Stadt Aachen Richtung belgische Grenze. Im Nachbarland, keine 70 Kilometer Luftlinie entfernt, steht das umstrittene und zum Teil mehr als vierzig Jahre alte Atomkraftwerk Tihange. Der älteste Block des Kraftwerks sollte eigentlich vor zwei Jahren vom Netz gehen. Wiederholt beunruhigten in letzter Zeit Meldungen über neu entdeckte Risse in den Reaktoren die Öffentlichkeit. Deswegen treffen die Behörden der Region Aachen jetzt eine Vorsichtsmaßnahme: Einwohner können sich ab Freitagüber ein Onlineportal kostenlos Jodtabletten bestellen, um für den Ernstfall eines Größten Anzunehmenden Unfalls (GAU) in Tihange vorzusorgen.

"Das ist zunächst einmal nicht vorgesehen in Deutschland", sagt der für Umweltthemen zuständige Dezernent der Stadt Aachen, Markus Kremer. Bundesweit werden die Tabletten sonst zentral gelagert und erst im Ernstfall verteilt. Man sei in Aachen aber zu dem Schluss gekommen, so Kremer, dass man im Falle eines Atomunfalls in Tihange nicht schnell genug mit der Tablettenverteilung nachkäme.

Deutschland Verteilung von Jodtabletten in Aachen Markus Kremer
Markus Kremer, Umweltdezernent der Stadt Aachen: "Panikmache ist unangebracht"Bild: DW/S. Schröder

"Daraus ist die Idee entstanden, durch eine Vorverteilung von Jodtabletten einen Gutteil der Bevölkerung bereits mit Tabletten zu versorgen." Im Falle eines Atomunfalls besetzt das Jod aus den Tabletten die Schilddrüse und verhindert, dass radioaktives Jod aufgenommen wird. Damit wird das Risiko für Schilddrüsenkrebs gesenkt - allerdings nur dafür. Die Tabletten sind vor allem für Kinder und Jugendliche, stillende Mütter sowie alle Menschen unter 45 Jahren gedacht. Für alle anderen überwiegt das Risiko von Nebenwirkungen die Wahrscheinlichkeit, im Lebensverlauf noch an Schilddrüsenkrebs zu erkranken.

"Umstände nicht bagatellisieren"

Markus Kremer und die Stadt sind sich bewusst, dass auch eine solche reine Vorsichtsmaßnahme die Bürger noch weiter verunsichern kann. "Bei allem, was wir bisher getan haben, haben wir darauf geachtet, dass wir einen vernünftigen Weg finden, einen Weg der Aufklärung, einen Weg der Information. Denn auf der einen Seite ist Panikmache völlig unangebracht; auf der anderen Seite darf man die Umstände aber auch nicht bagatellisieren." Die Behörden rechnen damit, dass mehr als jeder Dritte das Angebot wahrnimmt.

Deutschland Verteilung von Jodtabletten in Aachen Flyer Tihange abschalten
Klare Ansage in einem Aachener Fenster: "Tihange abschalten"Bild: DW/S. Schröder

Die belgischen Atomkraftwerke mobilisieren die Menschen in Aachen ohnehin. Auf Aufklebern und Flyern in vielen Fenstern und Autos liest man "Tihange abschalten!", eine Kampagne der Grünen in der Euroregio Maas-Rhein. Im Sommer hatten Aktivisten mit einer 90 Kilometer langen Menschenkette von Tihange bis nach Aachen protestiert.

Gefragt waren die Jodtabletten bereits vor der Verteilaktion der Behörden, berichtet die Apothekerin Gabriele Neumann, Inhaberin der Karls-Apotheke in der Aachener Innenstadt: "Die Nachfrage war vor anderthalb Jahren im November, Dezember 2015 sehr groß, als Tihange ein paar Mal abgeschaltet wurde, dann wieder angeschaltet wurde und dann wieder abgeschaltet werden musste. Da wurde der Ruf hier in der Region, dass die Jodtabletten verteilt werden sollten, ganz groß." 300 Packungen hat die Apothekerin damals verkauft.

Jodtabletten als alleinige Vorbereitung: "Mehr als halbherzig"

Jodtabletten allein - das sei allerdings keine ausreichende Vorbereitung, wenn sich Bürger ernsthaft auf einen nuklearen GAU vorbereiten wollen, sagt Hans-Josef Allelein. Er leitet den Lehrstuhl für Reaktorsicherheit und Reaktortechnik an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule in Aachen. 

Hans-Josef Allelein Professor Universität Aachen
Hans-Josef Allelein, Professor für Reaktorsicherheit an der Universität Aachen: "Nur der erste Schritt"Bild: picture-alliance/dpa/A. Levay

"Man muss sich darüber im Klaren sein: Das ist der erste Schritt. Wenn man diese Angst hat, auch wenn ich sie für unbegründet halte, dann muss man auch pro Haushalt pro Person zwei Liter Wasser, Grundnahrungsmittel, Vitamintabletten, Dichtungsmaterial für Fenster und Türen sowie Gummistiefel vorrätig haben", so Allelein. Wer Jodtabletten vorrätig hält, müsse konsequenterweise auch den nächsten Schritt in Eigenverantwortung machen, sonst sei das Ganze "mehr als halbherzig". 

Die Debatte um die Jodtabletten im Speziellen und Tihange im Allgemeinen hält er ohnehin für "hysterisch geführt". Ihn stört allen voran ein von der Städteregion in Auftrag gegebenes Gutachten der Universität Wien. Darin wurden mögliche Szenarien für die Region beleuchtet, falls der Reaktordruckbehälter von Tihange 2 brechen sollte und damit der GAU eintritt.

Das beauftragte Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften in Wien schreibt in seinem Gutachten, dass bei einem GAU in Tihange die Region um Aachen sehr wahrscheinlich von radioaktiven Strahlen betroffen sein könnte. Bei ungünstigen Wetterlagen könnte vermutlich sogar der Grenzwert erreicht werden, der 1986 beim Reaktorunfall in Tschernobyl zur Evakuierung der dortigen Umgebung führte, so die Studie.

Bundesregierung: Keine belastbaren Rückschlüsse

Ende vergangenen Jahres stellte die atompolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Bundestag, Sylvia Kotting-Uhl, eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung und wies auf die Studienergebnisse aus Wien hin. Die Bundesregierung antwortete Anfang des Jahres. Sie verwies darauf, dass der Katastrophenfall und die Notmaßnahmen in der Studie unzureichend beschrieben wurden und das Gutachten deswegen keine belastbaren Rückschlüsse erlaube:

Atomenergie reloaded in Belgien

"Die Studie stellt somit keine Basis für eine dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechende Katastrophenschutzplanung dar. Insofern ist die Studie zur Beurteilung von Planungsgebieten für Schutzmaßnahmen in der Region Aachen ungeeignet."

Auch wenn der Physiker Allelein persönlich die Angst vor dem GAU in Belgien für unbegründet hält, in einer Sache stimmt er dem Bündnis gegen Tihange zu: "Die Kritiker haben sicherlich Recht in Bezug auf das Verhalten der belgischen Betreiber und auch der belgischen Genehmigungsbehörde, der FANC - weil ich das Gefühl habe, dass die immer nur so viel rausrücken, wie gerade irgendwie durch irgendwas erfahren wird."