Abenteuer Demokratie
8. Oktober 2004In der bewegten Geschichte des Vielvölkerstaates Afghanistan wird das Staatsoberhaupt des Landes zum ersten Mal durch demokratische Wahlen gewählt. Zum demokratischen Selbstverständnis gehört auch, dass die Bürger zwischen verschiedenen Parteien und Kandidaten auswählen können. Die politische Elite des Landes versucht, durch die Präsentation zahlreiche Bewerber den Wählern politische Alternativen aufzuzeigen.
Die insgesamt 18 Präsidentschaftskandidaten, darunter der amtierende Präsident Hamid Karsai und Masuda Dschalal, eine engagierte Ärztin, spiegeln durchaus die Vielfalt der Volksstämme, Sprachen und Regionen des Landes wider. Das Durchschnittsalter der Kandidaten liegt bei 50 Jahren, wobei Masuda Dschalal aus Kabul mit 41 die jüngste und gleichzeitig die unabhängigste Kandidatin ist.
Vorbildlicher Wahlkampf
Mit seinen 47 Jahren liegt Präsident Karsai deutlich unter dem Durchschnittsalter der Kandidaten. Zur Überraschung mancher politischer Beobachter ist der Wahlkampf in einem Lande mit einer Analphabetenrate von über 90 Prozent im wesentlichen reibungslos, fair und konstruktiv verlaufen. Charakteristisch für den Verlauf des Wahlkampfes war in den vergangenen drei Wochen, dass sich viele Kandidaten am Wahlprogramm des amtieren Präsidenten Karsai für die Entwicklung einer eigener Wahlstrategie orientierten.
Dabei hat Karsai eigentlich keine neue, in sich geschlossene Entwicklungsstrategie formuliert. Er hat vielmehr die Fortsetzung der Arbeit seiner Regierung, differenziert nach verschiedenen Schwerpunkten, als Wahlprogramm vorgelegt. Hierbei spielen vor allem der Aufbau der Infrastruktur, wirtschaftlicher Wiederaufbau und soziale Gerechtigkeit eine große Rolle.
Große Töne
Im Eifer der Konkurrenz mit Präsident Karsai überboten viele Kandidaten einander mit Wahlprogrammen, die aus einer Reihe von detaillierten und sehr ehrgeizigen Einzelprojekten bestanden. Dazu gehörten beispielsweise Schulunterricht für alle Kinder, ausreichende Trinkwasser- und Stromversorgung für alle, auch sollte jeder Bürger schnellstens ein Dach über den Kopf bekommen. Sämtliche Entlassungen aus dem Staatsdienst, aus Staatsbetrieben und aus dem Militär sollten sofort rückgängig gemacht werden. Für diese Massenentlastungen, deren Zahl in die Hunderttausende gehe, so der Tenor, sei Präsident Karsai allein verantwortlich.
Über die Frage, wie nun derartige Programme zu finanzieren seien, herrscht Stillschweigen. Doch einige Kandidaten meinten, Afghanistan sei ein reiches Land, das Land besitze große Reserven an Erdgas- und Erdöl-Vorkommen, der Hindukusch sei für seine Edelsteine weltbekannt. Und so weiter und sofort.
Friedliche Wahlen vorrangiges Ziel
Es gab aber auch ernstzunehmende Diskussionsbeiträge, die für den Sachverstand der politischen Atmosphäre sprechen. Präsident Karsai hat in seinem Wahlprogramm explizit versprochen, das Durchschnitteinkommen der Afghanen von dem jetzigen Niveau von 200 US-Dollar pro Kopf in vier bis fünf Jahren auf 500 zu erhöhen. Das klang plausibel und für jeden Bürger nachvollziehbar. Dem begegnete Latif Pedram, der Kandidat des "Nationalen Kongresses", mit heftigem Widerspruch. Er meinte, es könne gut sein, dass sich in den kommenden Jahren die Wirtschaftssituation der oberen Zehntausend deutlich verbessert. Dies könnte in der Tat, rein statistisch, zur Steigerung des Durchschnittseinkommens führen. Tatsächlich werde sich jedoch die Kaufkraft der Massen nicht ändern.
Trotz aller Unterschiede der Kandidaten in ihrem Wahlprogramm oder ihrem Temperament wurden die Fragen der nationalen Einheit und politischen Sicherheit mit höchster Priorität, ohne Polemik und fair behandelt, was für die afghanische Übergangsgesellschaft von großer Bedeutung ist. Mohammed Karim Chalili, der erste Stellvertreter-Kandidat von Präsident Karsai, sagte in einer Debatte: "Für unser Team ist es nicht von großer Bedeutung, dass wir die Wahlen auf jeden Fall gewinnen. Es wäre aber ein politischer Erfolg für Afghanistan, wenn die Wahlen reibungslos, friedlich und fair verliefen."
In der Tat würde mit erfolgreichen Wahlen der Grundstein für die demokratische Tradition am Hindukusch gelegt. Für die Sicherheit sind landesweit umfassende Maßnahmen getroffen worden. Es sind 5000 Wahlzentren und 20.000 Wahllokale eingerichtet worden, wo über 100.000 Wahlhelfer im Dienste der Bürger tätig sind. Obwohl Präsident Karsai als hoher Favorit gilt, hat das Volk das letzte Wort.