1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Warum Anti-Rassismus-Arbeit in Großbritannien bedroht ist

Manasi Gopalakrishnan
23. Juli 2023

In Großbritannien gibt es mehrere Politiker, die einer ethnischen Minderheit angehören. Doch Schriftsteller, die sich gegen Rassismus engagieren, werden oft verteufelt, sagt die Journalistin Afua Hirsch.

https://p.dw.com/p/4ToBY
Porträt von Afua Hirsch von der Seite.
Journalistin und Autorin: Afua HirschBild: Henry Gill

Afua Hirsch arbeitete zunächst als Rechtsanwältin, bevor sie sich dem Journalismus verschrieb. Ihr Vater ist Brite, ihre Mutter stammt aus Ghana. Für die Tageszeitung "The Guardian" war sie u.a. als Korrespondentin mit Sitz in der ghanaischen Hauptstadt Accra im Einsatz. Hirsch hat sich intensiv mit der Geschichte von Briten mit Migrationshintergrund beschäftigt und 2018 ein Buch mit dem Titel "Brit(ish): On Race, Identity and Belonging" (Deutsch: "Britisch sein: Über Ethnie, Identität und Zugehörigkeit") veröffentlicht. Die Deutsche Welle traf sie beim Global Media Forum in Bonn.

Deutsche Welle: Frau Hirsch, wie sieht die Situation für People of Color im Vereinigten Königreich derzeit aus?

Afua Hirsch: Ich denke, wir haben in mancherlei Hinsicht Fortschritte gemacht: Die Diskussion ist sichtbarer geworden und mehr Menschen achten darauf, wie sie damit umgehen. Doch in mancher Hinsicht haben wir auch Rückschritte gemacht: In rechten Kreisen beobachten wir eine noch nie dagewesene politische Feindseligkeit gegenüber der Chancengleichheit von People of Color. Und wir erleben tatsächlich die Dämonisierung von Schriftstellern, Denkern und Aktivisten, die sich gegen Rassismus engagieren.

Es herrscht ein ziemlich beängstigendes Klima: Wenn man einfach nur über Fakten zu rassistischen Ungerechtigkeiten berichten und über sie diskutieren will, wird man in Großbritannien persönlich verfolgt. Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal erleben würde.

Wurden Sie persönlich verfolgt? Oder können Sie einige Beispiele nennen?

Letztes Jahr sickerte ein Memo der britischen Regierung durch, in dem es hieß, dass ich aus Whitehall [einer Straße im Londoner Regierungsviertel Westminster, Anm.d.Red.] verbannt sei. Ich dürfe nicht mit der Regierung oder mit Beamten zusammenarbeiten, da ich eine "Extremistin" sei - weil ich mich gegen Rassismus engagiere. In dem Memo wurden auch andere prominente antirassistische Denker genannt, David Olusoga und Priyamvada Gopal zum Beispiel.

"Wir erleben die Dämonisierung von Schriftstellern, die sich gegen Rassismus engagieren"

Es gab Äußerungen von Ministern der Regierung, die die Frage aufwarfen, ob die "critical race theory" nicht verboten werden sollte und Menschen, die Bücher über Antirassismus schreiben, kriminalisiert werden sollten. Wir haben eine Ministerin für Frauen und Gleichberechtigung, die gesagt hat, dass sie nicht an Feminismus oder Rassismus glaubt. Also ja, das ist wirklich ernst. Früher gab es - unabhängig von der politischen Ausrichtung - immerhin den Druck, diese Themen ernst zu nehmen.

Großbritanniens Premierminister Rishi Sunak, vor ihm ein Banner: "Stop the Boats"
Findet deutliche Worte gegen Bootsflüchtlinge: Großbritanniens Premierminister Rishi Sunak Bild: Leon Neal/Getty Images

Man würde eigentlich erwarten, dass sich diese Dinge verändert haben - vor allem, weil das Vereinigte Königreich mit Rishi Sunak einen Premierminister hat, der nicht weiß ist.

Wir haben tatsächlich mehr People of Color in der Regierung als in der Vergangenheit. Doch das sind alles Leute, die ihre eigene Geschichte als Angehörige einer ethnischen Minderheit benutzt haben, um Anti-Rassismus-Arbeit zu verleugnen und die Tatsache zu untergraben, dass wir in unserem Land keine Chancengleichheit für alle Ethnien haben.

"Die People of Color in der Regierung verleugnen Anti-Rassismus-Arbeit"

Ich glaube, die Botschaft, die man heute in Großbritannien erhält, lautet: Wenn du als Angehöriger einer Minderheit erfolgreich sein willst, musst du deine eigene Community und deren Kampf öffentlich verleugnen. Und ich denke, das ist ein Rückschritt.

Sind die People of Color in der Regierung also Teil des Establishments geworden?

Sie sind bereit, ihr eigenes Erbe als politische Waffe einzusetzen, um das zu sagen, was die weißen Wähler ihrer Meinung nach hören wollen.

Wie kann das funktionieren?

Wir leben im Vereinigten Königreich in einem sehr populistischen Klima. Ich denke, die Wähler wollen hören, dass sich Politiker rassistisch oder ausländerfeindlich äußern. Dass sie gegen den Kampf für Chancengleichheit sind. Daher glaube ich, dass vieles von dem, was sie sagen, nicht unbedingt auch das ist, was sie wirklich glauben, sondern das, was ihrer Meinung nach bei den Wahlen erfolgreich sein wird.

"Vieles von dem, was die Politiker sagen, ist nicht unbedingt das, was sie wirklich glauben"

Ich denke, das ist ihre Interpretation der Botschaft des Brexit. Es gibt viele Wahlkreise im Vereinigten Königreich, die einen berechtigten Grund haben, sich zu beschweren: weil sie abgehängt wurden. Es gab nach der Deindustrialisierung keinen Plan für ihre Gemeinden. Und die Vorteile der Globalisierung wurden nicht gleichmäßig verteilt.

GMF 2023 | Moderator Jared Reed mit Nic Newman, Afua Hirsch, Bartholomäus Laffert und Javier Garza Ramos
Afua Hirsch war im Juni 2023 Podiumsteilnehmerin beim Global Media Forum der DWBild: Florian Goerner/DW

Diese großen existenziellen Probleme kann nicht nur eine Generation von Politikern lösen. Es ist äußerst schwierig, mit dem Versprechen zur Wahl anzutreten, Antworten auf diese Probleme zu haben. Deshalb machen es sich die Politiker leicht und schieben die Schuld für diese Missstände auf die Einwanderung und den Multikulturalismus - in der Hoffnung, damit den Anschein zu erwecken, sie hätten eine Art Antwort auf diese viel größeren, viel tiefer verwurzelten Probleme.

Wie wirkt sich das alles auf die Lebenshaltungskosten in Großbritannien aus? Insbesondere für People of Color, die zur unteren Mittelschicht gehören?

Ich denke, es hat das Potenzial, die Unehrlichkeit dieser politischen Agenda zu entlarven. Die Realität ist nämlich, dass der Brexit Großbritannien nicht wohlhabender gemacht hat. Er hat nicht mehr Arbeitsplätze geschaffen. Er hat Großbritannien nicht vor einer weltweiten Krise der Lebenshaltungskosten bewahrt. Wenn überhaupt, dann hat er Großbritannien anfälliger für all diese Probleme gemacht.

"Der Brexit hat Großbritannien nicht wohlhabender gemacht"

Tatsächlich hat der Weggang vieler Einwanderer der Wirtschaft in vielerlei Hinsicht geschadet. Der Dienstleistungssektor und die Landwirtschaft haben jetzt Schwierigkeiten, geeignete Arbeitskräfte zu finden. Ich denke, dass die Wählerinnen und Wähler dadurch klüger geworden und besser gewappnet sind. Sie hinterfragen jetzt die Vorstellung, dass es schnelle Lösungen für all diese Probleme gibt.

Kemi Badenoch
Kemi Badenoch, u. a. Ministerin für Frauen und Gleichstellung, wurde wegen ihrer "Anti-Woke"-Haltung als "Liebling der Rechten" bezeichnetBild: Tayfun Salci/ZUMA/picture alliance

Autorinnen und Autoren of Color gewinnen auf der ganzen Welt an Sichtbarkeit. Glauben Sie, dass das nur oberflächlich so ist? Oder hat es tatsächlich Auswirkungen darauf, wie Sie als Autorin mit nicht-weißem Hintergrund gesehen werden?

Ich denke, es ist eine Tatsache, dass Autoren, Akademikerinnen und Filmemacher mit schwarzem Hintergrund sichtbarer geworden sind. Das liegt zum Teil einfach daran, dass sie so lange keine Plattform und keine Chance hatten.

Ich denke aber auch, dass es die Tatsache widerspiegelt, dass die Menschen Zugang zu mehr Informationen haben und in der Lage sind, die Geschichten zu finden, die sie suchen. Heute wird alles immer mehr zu einem Marktplatz. Früher wurden die Informationen, zu denen wir Zugang hatten, sehr stark von weißen Torwächtern kontrolliert.

Beispiel Tod der Queen: Früher konnten die britischen Medien weltweite Medienreaktionen kontrollieren. Heute hören wir Stimmen aus der ganzen Welt - aus Indien, Australien, Kanada. Menschen, die sehr persönliche Erinnerungen an Gräueltaten haben, die im Namen der britischen Krone begangen wurden, konnten über ihre Erfahrungen sprechen. Die britischen Medien konnten nicht mehr all die Geschichten kontrollieren, die weltweit darüber erzählt wurden, was diese Institution einst bedeutete. Und ich denke, in einer Demokratie müssen wir das feiern.

Das Interview führte Manasi Gopalakrishnan.

Adaption aus dem Englischen: Nikolas Fischer