Regisseurin Lucrecia Martel leitet Venedig-Jury
29. August 2019Lucrecia Martel wird sich nur zwei Filme von regieführenden Frauen anschauen können. Der Rest stammt von Männern. Zwei von 21, das ist eine dürftige Bilanz. Im Wettbewerb der 76. Filmfestspiele von Venedig (28.8.-7.9.) sind lediglich die Filme der aus Saudi-Arabien stammenden Regisseurin Haifaa al-Mansour und der Australierin Shannon Murphy dabei.
"Leider sind Regisseurinnen immer noch in der Minderheit", bemerkte Festivaldirektor Alberto Barbera im Vorfeld desFestivals und versuchte gleichzeitig zu beruhigen: "Aber auch die von männlichen Regisseuren vorgestellten Frauenporträts offenbaren eine neue Form der Sensibilität des weiblichen Universums, was in der Vergangenheit selten der Fall war."
Lucrecia Martel ist ein echter Festival-Profi
Die Nominierung von Lucrecia Martel als Jury-Präsidentin dürfte zumindest für einen gewissen Ausgleich zwischen den Geschlechtern sorgen. Martel hat bereits reichlich Erfahrung in Sachen Jury-Mitarbeit. 2002 war sie Mitglied der Berlinale-Jury, vier Jahre später durfte sie in Cannes mit entscheiden, wer die Goldene Palme bekommt. Und auch in Venedig saß sie 2008 schon in der Jury.
Jetzt steht sie also erstmals an der Spitze eines solchen Gremiums. Und auch als Regisseurin, als Wettbewerberin mit eigenem Film, kennt sie sich gut aus auf dem internationalen Festivalparkett. Mit ihren "nur" vier Spielfilmen war sie praktisch immer vertreten bei den drei großen Filmfestivals der Welt, eine erstaunliche Bilanz.
Doch wer Martel zum Beispiel im vergangenen Jahr beim Festival in München erlebt hat, wo ihr eine Retrospektive ausgerichtet wurde, kann nachvollziehen, warum gerade diese Frau so oft und gerne von den Festivalmachern eingeladen wird. Die Regisseurin hat etwas zu sagen, sie redet klug über das Kino, über das Verhältnis zwischen Kunst und Gesellschaft. Martel ist eine versierte Gesprächspartnerin.
Martels Protagonisten waten durch tiefen Morast
Das konnte man im Übrigen auch schon 2001 spüren, als sie ihr Langfilmdebüt "Der Morast" im Wettbewerb der Berliner Filmfestspiele präsentierte. In "La Ciénaga" (Originaltitel) erzählt sie von einer Großfamilie aus der argentinischen Bourgeoisie, die ihren Urlaub in Salta verbringt, der Provinzhauptstadt ganz im Nordosten der gleichnamigen Provinz. In Salta wurde Martel 1966 auch geboren, dort kennt sie sich also aus.
In langen Einstellungen dringt Martel in dem Film in die Psyche ihrer Protagonisten ein, erzählt von Langeweile und Dekadenz, von Begehren und Konflikten. Zwei Welten beschreibt Martel in "Der Morast", die der Kinder, die spüren, dass sich da noch eine ganz andere Welt jenseits kindlicher Ausgelassenheit auftut, und die der Erwachsenen, die nicht wissen, wohin mit ihren Gefühlen und der lähmenden Langeweile.
Die Schwüle lähmt die Protagonisten in "Der Morast"
"La Ciénaga" heißt übersetzt "Der Sumpf" oder eben "Der Morast", und um einen Sumpf der Emotionen geht es auch in Martels Debüt. Ein wenig knüpft sie dabei an den "diskreten Charme der Bourgeoisie" des spanisch-mexikanischen Regisseurs Luis Buñuel an. Der bourgeoise Charme, den Buñuel 1972 auf die Leinwand zauberte, spielte sich vor allem zu Tisch ab. Bei Martel dominiert in "Der Morast" eine alles durchdringende Hitze und Schwüle, die den Protagonisten zusetzt und sie lähmt. In Berlin gab's dafür 2001 den "Alfred-Bauer-Preis" für das beste Debüt.
2004 präsentierte Lucrecia Martel im Wettbewerb der Filmfestspiele in Cannes ihren zweiten Film "Das heilige Mädchen". Eine Mutter und ihre Tochter leben in einem heruntergewirtschafteten Hotel. Eines Tages tagt dort ein Ärztekongress, einer der Teilnehmer entpuppt sich als pädophil. Es kommt zur Katastrophe. Auch dies ein Film mit nur wenigen Dialogen, der die angeknackste Psyche der Protagonisten vornehmlich über Bilder, Einstellungen und Montage erzählt.
Kopflose Protagonisten - Martels Blick auf die Gesellschaft
Wiederum vier Jahre später ist Martel erneut in Cannes zu Gast, wo sie ihren dritten Film "Die Frau ohne Kopf" zeigt, das Psychogramm einer Frau, die nach einem Unfall Fahrerflucht begeht. Martels bislang letzter Film "Zama" feierte vor zwei Jahren an dem Ort Welturaufführung, an dem sie nun über die Filme des Biennale-Wettbewerbs zu entscheiden hat: in Venedig.
In "Zama" stellte die Regisseurin erstmals einen männlichen Protagonisten in den Mittelpunkt: Don Diego de Zama fristet Ende des 18. Jahrhunderts als spanischer Kolonialbeamter ein mühsames Dasein. Sein sehnlichster Wunsch, die Versetzung in die Hauptstadt Buenos Aires, zerschlägt sich. Aus Verzweiflung schließt sich Zama schließlich der mörderischen Jagd auf einen gefürchteten Banditen an - und zahlt dafür einen hohen Preis.
"Zama" zeigt die Geschichte des Kolonialismus von einer anderen Seite
Auch "Zama" ist das Porträt eines Menschen auf der Suche - und wie immer bei dieser Regisseurin ein Film, der selbst auf der Suche scheint: nach einer schlüssigen Handlung und Spannung, nach der Welt hinter den vordergründigen Ereignissen, diesmal in der Hülle eines Historienfilms. "Das Prinzip der Desorientierung" gehöre zu Martels Markenzeichen, urteilte eine deutsche Zeitung nach der Premiere von "Zama" sehr treffend.
Martel selbst sagte über ihren bisher letzten Film: "Ich möchte die Vergangenheit mit der gleichen Respektlosigkeit erkunden, mit der wir sonst über die Zukunft nachdenken." Sie wolle versuchen, "nicht die einschlägigen Artefakte und Tatsachen zu dokumentieren - 'Zama' hegt so gesehen keinerlei geschichtswissenschaftliche Ansprüche - stattdessen möchte ich in eine Welt eintauchen, die auch heute noch unüberschaubar wirkt, mit Tieren, Pflanzen und uns heute unverständlich erscheinenden Frauen und Männern. Eine Welt, die bereits erschüttert war, bevor sie überhaupt gefunden wurde und die deswegen im Delirium verharrt."
Martels Filme sind nichts für ein unterhaltungssüchtiges Publikum
Man muss sich auf die sinnlich-atmosphärischen Filmwelten der Lucrecia Martel einlassen, Geduld für die langen Einstellungen mitbringen, für das Umherirren der Protagonisten in Raum und Zeit. Die Regisseurin verlangt nicht wenig von den Zuschauern, die im Superhelden- und Netflix-Zeitalter schnelle Schnitte, rasende Dialogkaskaden und viel Action gewöhnt sind.
Lucrecia Martel hat mit alldem nichts am Hut. Sie ist eine Autorenfilmerin reinsten Wassers, die ihre ganz persönlichen Geschichten in ihrem ganz eigenen Rhythmus erzählt. Man darf gespannt sein, welche Filme Martel und ihre sechs Jury-Kollegen am Ende des Festivals mit den Silbernen und dem Goldenen Löwen auszeichnen.
Die 76. Filmfestspiele von Venedig beginnen am 28. August und enden am 7. September mit der Preisverleihung. Lucrecia Martels letzter Film "Zama" liegt in der Originalfassung mit deutschen Untertiteln beim DVD-Anbieter "Absolut Medien" vor.