"Menschenversuche" an DDR-Bürgern
15. März 2016"Die DDR-Behörden stellten westlichen Unternehmen das Gesundheitssystem ihres Staates als Forschungseinrichtung zur Verfügung, um knappe Devisen für die eigene überschuldete Planwirtschaft zu erwirtschaften." So heißt es im Abschlussbericht des Forschungsprojekts am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum Charité.
Am Dienstag (15.03.2016) haben die Historiker ihre Ergebnisse in der Bundesstiftung Aufarbeitung in Berlin vorgestellt. Demnach ist beweisen, dass westliche Arzneimittelhersteller mindestens 321 klinische Studien in der DDR durchführten. Es gab Hinweise auf bis zu 900 Studien zwischen 1961 und 1990; für zwei Drittel davon fanden die Medizinhistoriker aber keine dokumentarischen Beweise.
Die Aufträge für die Medikamententests kamen von 75 Unternehmen aus 16 Ländern, vor allem aus Westdeutschland, aber auch aus der Schweiz, Frankreich, den USA und Großbritannien.
Volker Hess vom Institut für Geschichte der Medizin und Ethik hat mit seinem Team Stasi- und Patientenakten sowie Berichte von Arzneimittelherstellern gelesen, Archive durchforstet und Zeitzeugen befragt.
Keine "Menschenversuche"
Warum entschieden sich westliche Pharmaunternehmen dazu, klinische Studien in der DDR durchzuführen? Dem Abschlussbericht zufolge war der entscheidende Faktor nicht das geringere Honorar des Personals in Ostdeutschland, sondern "der beträchtliche Zeit- und Effizienzgewinn, den die aufsichtführenden Behörden des diktatorischen DDR-Regimes gewährleisteten, indem sie Einzelinteressen von Prüfzentren und Prüfärzten deckelten und öffentliche Kritik ausschalteten und so für eine zügige operative Durchführung sorgten." Die Studien waren demnach schneller und effizienter durchzuführen als beispielsweise in Westdeutschland. Jedoch hätten westliche Pharmafirmen auch die schlechtere Versorgung mit Medikamenten im Osten ausgenutzt.
Als im Sommer 2014 erste Zwischenergebnisse präsentiert wurden, hatte Hess bereits betont, er halte es für völlig überzogen, von "Menschenversuchen" zu sprechen. Im Abschlussbericht heißt nun ein Kapitel "Der Skandal, der keiner war". Systematische Verstöße gegen damals geltende Regeln seien nicht festgestellt worden, konstatiert der Bericht. Klinische Studien in DDR-Krankenhäusern wurden nach vergleichbaren Standards wie im Westen durchgeführt. Ob DDR-Patienten stets informiert wurden, habe sich nicht vollständig klären lassen. Es müsse aber davon ausgegangen werden, dass in Einzelfällen Betroffene nicht aufgeklärt wurden.
Anlass zur Forschungsstudie war ein Artikel des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" im Mai 2013: Dort war die Rede vom "Versuchslabor Ost", in dem "unerprobte Arzneien" eingesetzt worden seien. Das groß angelegte Projekt an der Charité wurde vom Bund, der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, von Ärztekammern und Verbänden finanziert. Es gilt als die erste umfassende Veröffentlichung zur klinischen Auftragsforschung westlicher Firmen in der DDR.
bo/fs (dpa)