Aufstand in Caracas
7. Dezember 2002Seit Tagen ziehen die Demonstranten jede Nacht mit ohrenbetäubendem Lärm durch die Hauptstadt Caracas. Wütend hauen die Menschen auf Töpfen und Pfannen herum, Autos hupen. "Chávez hau ab" rufen die einen, "Wahlen sofort", die anderen. Es ist bereits das vierte Mal in diesem Jahr, dass die Gewerkschaften zum Generalstreik gegen Präsident aufgerufen hat.
Nachdem es bei den Unruhen inzwischen die ersten Toten gegeben hat, kündigte Präsident Chávez die Wiederaufnahme der Verhandlungen mit der Opposition an. Eine Beruhigung der Lage tut Not: Von Tag zu Tag rückt Venezuela näher an den Rand des finanziellen Abgrunds. Im ersten Halbjahr schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt um 7,1 Prozent, die Inflation explodierte und stieg auf über 20 Prozent, die Zahl der Unternehmen im Land sank in den vergangenen drei Jahren von rund 11.500 auf 7000. Die Opposition gibt Chávez die Schuld an der Rezession. Mit dem Generalstreik will sie durchsetzen, dass sich Chávez im Februar einer Volksabstimmung über seine Präsidentschaft stellt.
Ölindustrie lahm gelegt
Doch der Präsident winkt ab. Das geplante Referendum sei verfassungswidrig. Nach der von ihm vor zwei Jahren veränderten Verfassung gebe es die Möglichkeit eines Referendums erst ab der Hälfte der Amtszeit des Präsidenten und das wäre im August. Chávez gab großspurig zu verstehen, dass ihn das Referendum so oder so nicht die Bohne interessiere. Das Ergebnis sei ihm egal, auch wenn "neunzig Prozent gegen mich stimmen".
Allerdings setzt der Streik nun Chávez doch mehr zu, als erwartet. Er trifft inzwischen Venezuelas Hauptschlagader, die Erdölindustrie. Das Land ist der fünftgrößte Erdölexporteur der Welt. Die Ölindustrie erwirtschaftet die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts des Landes und stellt rund 80 Prozent der Exporteinnahmen. Durch den Streik sind die Exporte fast gänzlich zum Stillstand gekommen, zwei Dutzend Öltanker konnten nicht beladen werden. Die Besatzung mehrerer Schiffe hat sich auf die Seite der Streikenden geschlagen, in der staatlichen Ölgesellschaft PDVSA traten Hunderte von Angestellte in den Ausstand.
Unterstützung schwindet
In Folge des Streiks ist der Weltmarktpreis für Rohöl gestiegen. Chavez will die Blockade nun mit allen Mitteln beenden. Die Streitkräfte sind im Einsatz und kämpfen mit Tränengas und Gummigeschossen gegen die Demonstranten. Chávez bezeichnete den Generalstreik als Werk von "Putschisten", die die PDVSA übernehmen wollten.
Der Rückhalt für den Präsidenten, der sich selbst zum Nachfolger des großen Freiheitskämpfers Südamerikas, Simón Bolivar, (1783-1830) ernannt hat, schwindet. Vor zwei Jahren war er noch mit überwältigender Mehrheit wiedergewählt worden. Vor allem die arme Bevölkerung hatte den charismatischen Chávez unterstützt, der die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums mit großen Tönen angekündigt hatte. In Venezuela bewirtschaften rund 250.000 Kleinbauern nur zwei Prozent der Fläche, Großgrundbesitzer sind Herr über fast die Hälfte des gesamten Landes.
Streik geht weiter
Seine Versprechen hat Chávez nicht eingelöst, laut aktuellen Umfragen ist seine Unterstützung auf 30 Prozent eingebrochen. Stattdessen übt sich der 48-Jährige in autoritärem Führungsstil. Zur Einschüchterung der Opposition ließ er schon einmal Kampfflugzeuge im Tiefflug über Caracas jagen. Erst im April musste Chávez einen Putschversuch von ranghohen Militärs abwehren. 19 Menschen starben damals bei gewaltsamen Unruhen.
Die Opposition macht weiter gegen Chávez mobil. 14 Parteien, 40 Nichtregierungsorganisationen, Arbeitgeber und Gewerkschaften haben sich zu einem Bündnis zusammengeschlossen. Sie hoffen auf die Vermittlung des Generalsekretärs der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), Cesár Gaviria, der seit Tagen mit der Regierung in Caracas verhandelt. Aufgeben wollen die Streikenden diesmal nicht. Gewerkschaftsführer Carlos Ortega kündigte an, in "Ausübung seines souveränen Rechts" setze das Volk den Streik fort.