Bangladesch: Warum protestieren die Studierenden?
19. Juli 2024Die seit Anfang Juli anhaltenden Studentenproteste in Bangladesch haben weitere Menschenleben gefordert. Medienberichten zufolge sollen bei Zusammenstößen zwischen Demonstrierenden und der Polizei bis zum 19. Juli mindestens 39 Menschen ums Leben gekommen sein. Die Demonstrationen richten sich gegen die Wiedereinführung eines alten Quotensystems, wonach mehr als die Hälfte der Anstellungen im öffentlichen Dienst für bestimmte Gruppen reserviert sind.
Bangladeschs Premierministerin Sheikh Hasina hielt am Mittwochabend eine Fernsehansprache, in der sie die tödliche Gewalt während der Proteste anprangerte. Hasina sagte, es werde eine gerichtliche Untersuchung geben und die für die Todesfälle Verantwortlichen würden vor Gericht gestellt. "Einige wertvolle Leben sind unnötigerweise verloren gegangen", sagte sie. "Ich verurteile jede Tötung."
Die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Polizei, Anhängern der Regierungspartei und Studierenden in Dhaka und anderen Städten des Landes setzten sich jedoch fort. Allein am Donnerstag (18.07.2024) starben laut Nachrichtenagenturen unter Berufung auf örtliche Krankenhäuser mehr als 30 Menschen bei Zusammenstößen.
Auf Anweisung der Behörden wurden Hochschulen, Universitäten und islamische Seminare im ganzen Land für eine unbestimmte Zeit geschlossen. Paramilitärische Einheiten wurden ebenfalls entsandt, um in mehreren Städten für Ordnung zu sorgen. Die Behörden stellten am Donnerstag auch den mobilen Internetdienst ein.
Nusrat Tabassum, eine Demonstrantin in Dhaka, sagte, sie sei innerhalb von zwei Tagen zweimal von Anhängern der Chhatra League, dem Studentenflügel von Hasinas Regierungspartei Awami League, angegriffen worden. "Wir haben friedlich demonstriert, um das Quotensystem zu reformieren. Es ist keine politische Bewegung. Warum haben uns die Anhänger des Studentenflügels der Regierungspartei angegriffen?", fragt sie im DW-Gespräch.
Tanveer Hasan Saikat, Generalsekretär der Chhatra League der Dhaka University (DU), sagte der DW, dass die Studentenflügel der politischen Oppositionsparteien Bangladeschs die Unzufriedenheit über die Frage der Stellenquote ausnutzen und "die Emotionen der Studierenden als politische Waffe einsetzen".
Studierende wollen mehr Zugang zu Regierungsjobs
Die Studentengruppen protestieren gegen eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, der Anfang dieses Monats die Wiedereinführung von Quoten für Regierungsjobs angeordnet hatte. Das Quotensystem war 2018 nach massiven Studentenprotesten abgeschafft worden.
Im Rahmen des Quotensystems sind mehr als die Hälfte der Stellen im öffentlichen Dienst bestimmten Gruppen vorbehalten. So sind beispielsweise 30 Prozent der Regierungsjobs für Familienmitglieder von Veteranen reserviert, die 1971 im Befreiungskrieg gegen Pakistan gekämpft haben.
Diese werden in Bangladesch allgemein als "Freiheitskämpfer" bezeichnet. Anderen Gruppen, wie Frauen und Behinderten, wird ein geringerer Prozentsatz zugeteilt. Mehrere Demonstrierende, die eine Reform des Quotensystems fordern, erklärten gegenüber der DW, dass die Wiedereinführung der Stellenquoten in ihrer früheren Form dazu führen würde, dass ihnen die begehrten Stellen im öffentlichen Dienst verwehrt würden. Viele begabte Studierende würden sich auf die Stellen bewerben.
"Die meisten Studierenden wollen einen Job im öffentlichen Dienst in Bangladesch. Die soziale Absicherung ist einer der Gründe dafür", sagte Lamia Rahman Supti, eine Studentin der Universität Dhaka, die an den Protesten teilgenommen hat, im Gespräch mit der DW. Sie sagte, die Demonstrierenden sähen nicht ein, warum Regierungsjobs den Enkelkindern von Menschen vorbehalten seien, die vor über 50 Jahren im Befreiungskrieg gekämpft haben.
Die Gegner der Quoten in der bisherigen Form argumentieren, das System sei diskriminierend und müsse reformiert werden, um einem leistungsbasiertem System Priorität einzuräumen. Supti sagte, 56 Prozent der Regierungsjobs bestimmten Gruppen vorzubehalten, wie es im bisherigen Quotensystem vorgesehen sei, "kann keine gesunde Praxis sein. Normale Studierende fühlen sich auf den ersten Blick ausgeschlossen, nichts kann unfairer sein als das". Sie fügte hinzu: "Es sollte auf eine erträgliche Grenze reduziert werden, die unserer Meinung nach bei fünf Prozent liegt. Das wäre gut für uns alle".
Etwa 3000 solcher Regierungsjobs standen im vergangenen Jahr laut Regierungsangaben offen - für fast 340.000 Absolventen. Nasiruddin Yousuff Bachchu, ein bekannter Freiheitskämpfer und Kulturschaffender aus Dhaka, ist ebenfalls der Meinung, dass das Quotensystem reformiert werden sollte. Er lehnt jedoch die von den Demonstrierenden geforderte Reduzierung auf 5 Prozent ab. "Das Quotensystem sollte von den derzeit 56 auf 20 Prozent gesenkt werden. Die Zehn-Prozent-Quote, die wir für Frauen haben, sollte auf 15 Prozent erhöht werden. Wir müssen noch mehr Frauen in Regierungsjobs sehen."
"Außerdem müssen wir Quoten für ethnische Minderheiten, Menschen mit körperlichen Behinderungen und Randgruppen beibehalten", sagte er gegenüber DW. Er erläuterte, dass die Hasina-Regierung in den letzten Jahren Freiheitskämpfern monatliche Zuwendungen gezahlt habe, wodurch viele ihrer Familienangehörigen eine bessere Ausbildung erhalten konnten und daher mehr Enkel von Freiheitskämpfern als zuvor für Regierungsjobs in Frage kommen. Bachchu betonte, dass Gewalt nicht der Weg sei, Meinungsverschiedenheiten über das Quotensystem zu lösen.
"Ich denke, es sollte ein Dialog zwischen der Regierung und anderen Gruppen eingeleitet werden, um die Frage der Quotenreform zu lösen. Die Proteste sollten nicht lange so weitergehen", fügte er hinzu.
Oberster Gerichtshof kann über Reform entscheiden
Obwohl der Oberste Gerichtshof letzte Woche erklärte, dass die neue Regelung zu Quoten vorübergehend ausgesetzt ist, wollten die Demonstrierenden weiter protestieren, bis die Regierung die Quoten aufhebt. Am Mittwoch forderte Premierministerin Hasina die Demonstranten auf, Vertrauen in den Obersten Gerichtshof des Landes zu haben, der nächsten Monat eine neue Entscheidung zum Quotensystem treffen soll.
"Ich bitte alle, geduldig zu warten, bis das Urteil gefällt ist", sagte sie. "Ich glaube, dass unsere Studierenden vom Obersten Gerichtshof Gerechtigkeit erfahren werden. Sie werden nicht enttäuscht sein", fügte sie hinzu.
Die Quotengegner sind empört und behaupteten, Hasina habe sie in einer Pressekonferenz am vergangenen Sonntag (14.07.2024) indirekt als "Razakars" bezeichnet. Der Begriff gilt als beleidigend und bezieht sich auf diejenigen, die Bangladesch im Unabhängigkeitskrieg von 1971 verraten haben, indem sie mit Pakistan kollaborierten.
"Diese Bemerkung des Premierministers hat bei vielen Demonstrierenden Unmut hervorgerufen. Normale Studierende fühlen sich beleidigt. Bedeutet das, dass außer den Enkeln der Freiheitskämpfer alle anderen Razakars sind? Das ist nicht möglich", sagte die Demonstrantin Tabassum.
Asif Nazrul, Juraprofessor an der Universität Dhaka, verurteilte die Gewalt und sagte der DW, dass die Regierung das Problem einvernehmlich lösen könne. "Die Beschäftigungssituation in unserem Land ist sehr schlecht und die wirtschaftliche Lage ist nicht gut. Studierende sehen die Wiedereinführung der Jobquoten in einer solchen Situation als Angriff auf ihre Existenzgrundlage an", sagte er. "Wenn die Regierung will, kann sie das Rundschreiben zum Quotensystem überarbeiten und das Problem sofort lösen. Das Gericht hat die Möglichkeit offen gelassen, den Prozentsatz der Quoten und deren Größenverhältnisse zu einander zu ändern."
Aus dem Englischen adaptiert von Shabnam von Hein