Bayer vs. Bayern: Verkehrte Welt im Bundesliga-Meisterrennen
15. Februar 2024Die internationale Presse ist hingerissen: "Hurrikan Leverkusen! Xabi Alonso zerreißt die Bayern und fliegt auf fünf Punkte davon", schreibt die italienische Zeitung "La Gazzetta dello Sport" zum 3:0-Erfolg Leverkusens gegen die Münchener. Es scheint, als habe Bayer in dieser Saison tatsächlich das Zeug, den ersten Meistertitel der Vereinsgeschichte zu holen, auch wenn Sportdirektor Simon Rolfes noch bremst. "Die Endabrechnung gibt es im Mai, nicht vorher", sagte er in einer TV-Runde. Mit Blick auf die wichtigsten Faktoren im Titelrennen spricht in den kommenden Wochen jedoch einiges für Leverkusen.
Bayer versus Bayern - die Mannschaft
Kein Team in der Bundesliga wirkt aktuell so stabil wie Leverkusen. 31 Pflichtspiele in dieser Saison ohne Niederlage sprechen für sich. Und auch der befürchtete Leistungsknick im Januar ist ausgeblieben, als gleich vier Leistungsträger, unter anderem Innenverteidiger Edmond Tapsoba und Mittelstürmer Victor Boniface, für den Afrika-Cup freigestellt werden mussten. Die Team-Achse von Abwehrbollwerk Jonathan Tah, Abräumer Granit Xhaka und Kreativkraft Florian Wirtz gibt der Werkself in so gut wie jeder Situation Halt - auch wenn das Team in Rückstand gerät, wie zum Beispiel im Pokal gegen den VfB Stuttgart. In diesem System blühen andere auf: Flügelspieler Alejandro Grimaldo erspielte sich mit seinen Leistungen die erste Nominierung für die spanische Nationalmannschaft, Mittelfeldmann Robert Andrich für das DFB-Team. Hinzu kommen Verstärkungen wie Josip Stanisic, der gegen die Bayern traf. Er kam erst im Sommer auf Leihbasis nach Leverkusen - ausgerechnet aus München.
Bei der Qualität der Spieler kann der FC Bayern eigentlich mühelos mithalten, doch an Form und Einstellung hapert es. In einer Wutrede nach der Niederlage forderte Routinier Thomas Müller "mehr Eier" von sich und seinen Teamkollegen. Mutiges Spiel gebe es nur im Training, im Spiel seien alle gehemmt, so Müller.
Größtes Manko der Bayern ist im Moment das Spiel nach vorn. Gegen Leverkusen gab es keine einzige echte Torchance. Stürmerstar Harry Kane, immerhin Spitzenreiter der Bundesliga-Torjägerliste, hatte in 90 Minuten nur 18 Ballkontakte. Auch gegen schwächere Gegner tun sich die Bayern schwer - endloses Ballgeschiebe statt der sonst so großen Effektivität. Eine Ursache: Jamal Musiala, der die Bayern im vergangenen Jahr noch in letzter Minute zum Titel schoss, ist seit der Winterpause in einem Formtief. Andere Leistungsträger wie Joshua Kimmich oder Manuel Neuer plagten sich zuletzt mit kleineren Verletzungen. Ein Erfolgsrhythmus kann bei den Münchenern so nur schwer aufkommen.
Bayer versus Bayern - der Trainer
Xabi Alonso übernahm Bayer in der Vorsaison als Tabellenvorletzter. Nach einem Engagement in der zweiten spanischen Liga ist es erst seine zweite Station als Chefcoach. Seither hat er Bayer umgekrempelt und der Mannschaft einen eigenen Stil verpasst. Leverkusens Mittelfeld bleibt auch bei Ballbesitz sehr kompakt. Die Spieler stehen nur wenige Meter voneinander entfernt und haben dadurch bei Ballverlust gute Chancen, ihn sofort wieder zurückzuerobern. Zusammen mit den schnellen Flügelspielern und einem Torjäger wie Boniface in der Mitte ist das eine für Gegner gefährliche Mischung.
Bayers Erfolgsserie mit der Handschrift Alonsos haben den Trainer schon auf die Wunschzettel europäischer Spitzenklubs gehoben. Allen voran beim FC Liverpool, der ab dem Sommer Ersatz für den scheidenden Erfolgscoach Jürgen Klopp braucht. Wechselgerüchte könnten bei Bayer in den kommenden Wochen für Unruhe sorgen.
Dagegen ist das Grummeln rund um Bayern-Trainer Thomas Tuchel schon vernehmlich. Seit zehn Monaten ist er beim Rekordmeister unter Vertrag, eine Weiterentwicklung des Teams oder gar eine Handschrift des Trainers sind nicht zu beobachten. Während Ursachen für das Stottern des Erfolgsmotors bei den Bayern in der Kaderplanung und Formschwankungen einzelner Spieler zu suchen sind, gibt es auch Fehler, die Tuchel persönlich angekreidet werden. Seine taktische Entscheidung, in Leverkusen seine Startelf umzustellen und erstmals in der Saison auf eine Dreierkette zu setzen, erwies sich als Fehlschlag. Der Trainer reagierte - wie schon häufiger - dünnhäutig: "Die Niederlage hat nichts mit Taktik zu tun", sagte Tuchel, "ich würde es wieder so tun." Festzuhalten ist jedoch: Trotz aller Kritik kann Tuchel mit seinem Team weiterhin sowohl die Meisterschaft, als auch die Champions League gewinnen. Allerdings droht den Bayern nach dem 0:1 bei Lazio Rom im Hinspiel das Aus im Achtelfinale.
Bayer versus Bayern - die Mentalität
Was die Einstellung und den Glauben an den Erfolg angeht, herrscht verkehrte Welt. Bayer Leverkusen, das im Jahr 2000 den schon sicher geglaubten Meistertitel am letzten Spieltag in Unterhaching vergab und seither als "Vizekusen" verspottet wird, beweist Nervenstärke. In den vergangenen Wochen erzielte Bayer gegen Augsburg, Leipzig und im Pokal gegen Stuttgart die Siegtreffer erst sehr spät. "Wir haben gerade die Überzeugung, solche Spiele trotzdem zu gewinnen", bemerkte Abwehrspieler Tah. "Das fühlt sich gut an."
Diese Stärke, die eigentlich ein Markenzeichen des FC Bayern ist, fehlt den Münchenern derzeit. "Hosen runter. Karten auf den Tisch", hatte Trainer Tuchel etwas scherzhaft vor der Partie in Leverkusen gesagt und seine Profis in die Pflicht genommen. Die konnten das auf dem Feld jedoch nicht einlösen. Von einem "absoluten Albtraum" schrieb Thomas Müller auf Instagram. Kapitän Manuel Neuer sagte: "Es war mit unsere schlechteste Leistung am wichtigsten Tag". Untypisch für die Bayern.
Bayer versus Bayern - das Restprogramm
Noch vergeht einige Zeit bis zur Titelvergabe in der Bundesliga. Es sind noch 13 Spieltage zu absolvieren. Das bedeutet: Beide Teams bekommen es noch mit hochkarätigen Gegnern wie Dortmund, Stuttgart oder Frankfurt zu tun, ebenso wie mit bissigen Abstiegskandidaten. Für eine Prognose ist es definitiv zu früh. Während Leverkusen zudem noch im DFB-Pokal und der Europa League mitmischt, will sich Bayern in der Champions League durchsetzen. Schonen kann sich also auch keine der beiden Mannschaften.
Der Artikel wurde am 15. Februar nach dem Champions-League-Hinspiel der Bayern bei Lazio Rom aktualisiert.