Expressionismus und Kolonialismus
9. Januar 2022Als der Maler Max Pechstein im Mai 1914 den Luxusdampfer "Derfflinger" bestieg, um in die damaligen deutschen Kolonien in der Südsee zu reisen, befand er sich auf dem Höhepunkt seiner künstlerischen Karriere. Innerhalb weniger Jahre hatte er sich in Berlin einen Namen gemacht und die Kunstkritiker feierten seine neue, radikal moderne Art zu malen: Der junge Pechstein galt als Vorzeigekünstler des gerade erst geborenen Expressionismus.
Warum aber verließ Pechstein ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt das kulturelle Zentrum Berlin, um auf die Palau-Inseln zu ziehen, ein winziges Stück Land im Pazifik, das seit 1899 eine Kolonie des damaligen Deutschen Kaiserreichs war?
Die Suche nach Ursprünglichkeit
Für Max Pechsteins Reise lassen sich mehrere Gründe finden: Nach einer Begegnung mit den Dresdener Künstlern Ernst Ludwig Kirchner und Erich Heckel trat Max Pechstein ihrer Künstlervereinigung "Brücke" bei, die neben dem "Blauen Reiter" die bis heute bekannteste Expressionisten-Gruppe Deutschlands ist. Obwohl die Kunst der Brücke-Künstler den Kritikern anfangs sogar zu modern war, einte sie vor allem ihre kritische Haltung gegenüber den Auswüchsen der modernen, westlichen Zivilisation.
Pechstein und Co. sträubten sich gegen die engen gesellschaftlichen und künstlerischen Regeln im Kaiserreich und sehnten sich stattdessen nach Ursprünglichkeit. In ihrer Kunst suchten sie, wie Max Pechstein in seiner Autobiographie später formulierte, die "unentweihte Einheit von Natur und Mensch". Diese ursprüngliche Einheit von Mensch und Natur glaubten die Künstler unter anderem in den deutschen Südsee-Kolonien finden.
Die Primitivisten profitierten vom Kolonialismus
Darauf verweist auch die Ausstellung "Whose Expression? Die Künstler der Brücke im kolonialen Kontext", die nach den Verflechtungen der Brücke-Künstler mit dem deutschen Kolonialismus fragt und noch bis zum 20. März im Berliner Brücke-Museum zu sehen ist. Die Ausstellung zeigt unter anderem die Faszination der Künstler für Objekte, die aus den Kolonien in das Deutsche Reich geschafft wurden, wie zum Beispiel ein verzierter Dachbalken eines "Männerhauses", wie sie auf den Palau-Inseln üblich waren und der heute noch im Dresdner Museum für Völkerkunde ausgestellt wird.
Als der Expressionismus seine Erfolge feierte, war das Deutsche Kaiserreich mit seinen Kolonien in Afrika, Asien und dem Pazifik eine der wichtigsten Kolonialmächte der Welt. Und das stellte man in der Heimat stolz zur Schau. Etwa in den sogenannten Völkerschauen, in denen Kolonialisierte in Zoos auftraten, was sich die Brücke-Künstler gemeinsam anschauten, oder in den stetig anwachsenden Kolonialsammlungen der Völkerkundemuseen in Dresden und Berlin, wo die Künstler Dauergäste waren - vor allem deshalb, weil sie in den indigenen Kulturgütern die ursprünglichste Form der Kunst vor sich glaubten.
Jede Gesellschaft, so die damals weitverbreitete zugrundeliegende Idee, würde sich im Laufe der Geschichte aus einem wilden, primitiven Naturzustand heraus zu einem zivilisierten Kulturvolk entwickeln. Während die Kolonialmächte sich an der Spitze der Zivilisation sahen, wiesen sie den kolonisierten Völkern den Status der Primitiven zu. Für die Brücke-Künstler war eben jener vermeintlich primitive und daher in ihren Augen ursprüngliche Ansatz der Grund, deren Kunst so intensiv zu studieren und deren Ästhetik in eigenen Kunstwerken zu imitieren. Bei dieser Kunstform spricht man deshalb auch vom Primitivismus.
Die heute virulenten Fragen nach der Herkunft oder dem Kontext, in dem die oftmals geraubten Kulturgüter in den Museen ursprünglich standen, stellten sich die Brücke-Künstler nicht. Auch eine Diskussion um kulturelle Aneignung war im kolonialen Kaiserreich kein Thema.
Paul Gauguin und der Südseemythos
Aber nicht nur Objekte in Völkerkundemuseen bewegten Max Pechstein oder seinen Brücke-Kollegen Emil Nolde, der sich einige Monate vor Pechstein auf den Weg gemacht hatte, dazu, in den deutschen Kolonien im Pazifik zu leben. Einige Jahrzehnte zuvor war der französische Maler Paul Gauguin aus Frankreich nach Tahiti und später auf die Marquesas-Insel Hiva Oa gezogen. Gauguins Südseebilder fanden nach seinem Tod 1903 enormen Anklang auf dem europäischen Kunstmarkt.
Dabei lag Gauguins posthumer Erfolg wohl auch darin begründet, dass seine Bilder einen Mythos aufgriffen und fortführten, der in Europa schon seit über einem Jahrhundert zirkulierte: Im 18. Jahrhundert waren mehrere Reiseberichte europäischer Seefahrer erschienen, in denen Inseln wie Tahiti zu einem utopischen Naturparadies stilisiert wurden, wo die freie und öffentliche Liebe wie eine Religion praktiziert werde. Diesem Mythos reiste Gauguin über hundert Jahre nach Erscheinen der Reiseberichte hinterher und ließ Frau und Kinder in Marseille zurück, um in der Südsee zu leben.
Dort lebte Gauguin dann zwar bald mit einer gerade einmal 13-Jährigen zusammen, was lange Zeit als einfache Liebesbeziehung verharmlost wurde, ein unberührtes Südseeparadies fand der Maler auf der kolonialisierten Insel aber nicht vor. In seinem Reisetagebuch "Noa Noa" zeigte er sich im Gegenteil "angewidert von der ganzen europäischen Trivialität" und "enttäuscht von Dingen, die so fern von dem waren, was ich mir gewünscht und vor allem vorgestellt hatte". Ausdrücke dieser Enttäuschung sucht man in Gauguins Bildern allerdings vergeblich. Eine Geschichte, die sich bei den deutschen Expressionisten wiederholen sollte.
Ausblenden der kolonialen Strukturen in der Kunst
Auch bei Max Pechstein und Emil Nolde lässt sich ein starker Kontrast zwischen den idealisierten Bildern und der kolonialen Realität vor Ort feststellen. Die Handels- und Kriegsschiffe in den Häfen, die Telegraphenleitungen in der Landschaft oder die zum Arbeitsdienst gezwungenen Indigenen passten nicht zu der künstlerischen Suche nach Ursprünglichkeit, also wurden sie auf den Gemälden auch nicht abgebildet. Dabei waren es paradoxerweise gerade diese kolonialen Strukturen, die den Künstlern den Kontakt mit den vermeintlich Primitiven überhaupt erst ermöglichten.
Das Ehepaar Pechstein schien den kolonialen Kontext sogar aus ihrem Alltag auszublenden. Nach der luxuriösen Überfahrt auf dem Kreuzfahrtschiff zu den Palau-Inseln beschwerte sich Lotte Pechstein in ihrem Tagebuch vor allem über das drückende Klima und ihre Langeweile, und als die Japaner 1914 im Zuge des ausgebrochenen Ersten Weltkriegs die Inseln besetzen, zeigten Lotte und Max Pechstein sich überrascht und enttäuscht, dass die Indigenen sich nicht auf die Seite der Deutschen stellten.
Und auch Emil Nolde, der sich für die medizinisch-demographische Expedition des Reichskolonialamts als Zeichner verpflichtet hatte und so 1913 über Russland, China, Japan und Indonesien in das sogenannte Schutzgebiet Deutsch-Neuguinea - heute Papua-Neuguinea - gelangt war, hinterfragte die Rechtmäßigkeit der deutschen Kolonialherrschaft anfänglich nicht. Stattdessen schrieb der Künstler, dessen völkisch-nationales Gedankengut lange Zeit geflissentlich übersehen wurde, aus Deutsch-Neuguinea einen alarmierten Brief an das Reichskolonialamt, in dem er sich entsetzt über das Ausmaß zeigt, das die Ausfuhr einheimischer Kunst angenommen hatte: Dem deutschen Reich gingen viele unersetzliche Stücke verloren, die, so erinnerte Nolde den Kolonialbeamten, "die letzten Überbleibsel einer Urkunst" seien.
Die Stimmlosigkeit der Indigenen
In Emil Noldes Sorge um den deutschen Zugang zur "Urkunst" zeigt sich besonders deutlich, warum die kolonialistische Aneignung indigener Kulturgüter so problematisch war. Kunst und Kultur konnten dazu verwendet werden, das europäische Projekt der Kolonialisierung zu legitimieren. Und gleichzeitig machte das den Kolonialismus und die davon betroffenen Menschen schlichtweg unsichtbar.
Interessanterweise ist es dann Emil Nolde selbst, der nach seiner Rückkehr aus den Kolonien einen Perspektivwechsel vornimmt. Im 1936 geschriebenen dritten Band seiner Autobiographie gibt Nolde zu, dass der Kolonialismus "eine brutale Angelegenheit" sei. Die Gewalt sieht er dabei aber nicht nur im direkten Umgang mit den Indigenen, der "radikal und roh" gewesen sei. In einer auffälligen Umkehrung deutet Nolde dazu an, dass die für die Begründung des Kolonialismus so wichtige Unterscheidung zwischen Primitiven und Zivilisierten vor allem durch die Stimmlosigkeit der Indigenen aufrechterhalten wird: "Wenn, von den farbigen Eingeborenen aus gesehen, eine Kolonialgeschichte einmal geschrieben wird, dann dürfen wir weißen Europäer uns verschämt in Höhlen verkriechen."