Brüssel spielt Personal-Lotto
29. August 2018Die Diplomaten, Beamten und Journalisten kehren aus der Sommerpause nach Brüssel zurück. Der politische Betrieb nimmt langsam an Fahrt auf. Was gibt es da Schöneres als sich in den noch ruhigen Tagen bei Kaffee in milder Augustsonne mit sich selbst zu beschäftigen? Die Brüsseler Blase brummt im Moment vor allem vor Gerüchten und Spekulationen. Wer ergattert welchen Spitzenjob in den europäischen Institutionen? So lautet die Gretchenfrage.
Im kommenden Jahr wird im Mai das Europäische Parlament neu gewählt. Anschließend wird im Oktober der neue Präsident der Europäischen Zentralbank bestellt. Dann wird im November eine neue EU-Kommission mit 28 Kommissaren gebildet. Im Dezember folgt die Ernennung eines neuen Präsidenten des Europäischen Rates, also der Vertretung der Mitgliedsstaaten. Für diese wichtigen Posten, die die Politik Europas über Jahre hinweg prägen werden, ist der Wahlkampf intern in vollem Gange. Offiziell allerdings tun Politiker und Beamte so, als wüssten sie von nichts.
Niemand weiß Genaues
Bei der Besetzung der Posten spielen viele Faktoren eine Rolle: Parteizugehörigkeit, Geschlecht, Alter, Führungserfahrung, Nationalität, Bekanntheitsgrad in den EU-Staaten, bisherige Haltung zur Gemeinschaftswährung Euro und anderen EU-Grundsatzfragen. Das Forschungsinstitut "Votewatch" hat unter 1000 Insassen der Brüsseler Blase schon im Frühjahr in einer Umfrage ermittelt, welcher Kandidat wahrscheinlich erfolgreich sein wird. Das Ergebnis von "Votewatch": Brexit-Unterhändler Michel Barnier (Franzose) wird neuer Präsident der supranationalen Exekutive, der EU-Kommission. Manfred Weber (Deutscher) übernimmt den Vorsitz im Europäischen Parlament. Bundesbank-Präsident Jens Weidmann (Deutscher) steigt zum Chef der Europäischen Zentralbank auf. Der niederländische Premier Marc Rutte wird Präsident des Europäischen Rates.
Diese Vorhersage hat nach Meinung einiger Brüsseler Personal-Spekulanten einige Schönheitsfehler: 1. Barnier ist mit 67 Jahren zu alt und wird mit den Brexit-Verhandlungen nicht rechtzeitig fertig. 2. Weber und Weidmann sind Deutsche. Es kann aber nach dem Proporzdenken zwischen kleinen und großen Staaten nur einen Spitzenposten für ein Land geben. 3. Keiner der Herren ist eine Frau. Das Geschlecht spielt natürlich auch eine Rolle. Bundeskanzlerin Angela Merkel, die eine gewichtige Rolle im Personalkarussell spielt, versucht angeblich, die Französin Christine Lagarde vom Internationalen Währungsfonds wegzulocken und auf einen europäischen Posten zu hieven. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron will angeblich die dänische EU-Kommissarin Margrethe Vestager befördert sehen.
Merkel und Macron halten sich bedeckt
Relativ einig sind sich die Auguren und Journalisten in Brüssel, dass sich Frankreich und Deutschland als die verbliebenen europäischen Führungsmächte ein großes Stück vom Kuchen sichern wollen. Frankreichs Präsident Macron könnte es auf den EZB-Spitzenposten für einen Landsmann abgesehen haben. Die deutsche Kanzlerin könnte versuchen, ihren treu ergebenen Wirtschaftsminister Peter Altmaier, der Englisch, Niederländisch und Französisch spricht, als Kommissionspräsidenten zu installieren. Könnte, hätte, würde? Weder Macron noch Merkel haben sich dazu je geäußert. Deutsche Zeitungen schreiben allerdings seit Tagen, dass die Chancen von Jens Weidmann, von der Bundesbank in die Europäische Zentralbank zu wechseln, schwinden. Weidmann gilt als "Falke" in der Geldpolitik und würde die Ära des billigen Geldes, für die der scheidende Italiener Mario Draghi steht, wohl schnell beenden wollen. Das wiederum lehnen Länder wie Italien, Griechenland oder Spanien ab.
Besonders kompliziert ist die Auswahl des neuen Präsidenten der EU-Kommission. Amtsinhaber Jean-Claude Juncker (Luxemburg) will nicht weiter machen. Interessenten soll es für den Posten viele geben, allerdings muss dieser zuerst als "Spitzenkandidat" seine Partei zum Wahlsieg bei den Europawahlen führen. Die größte Fraktion im neuen Parlament beansprucht das Amt des Kommissionspräsidenten für sich. Ausgewählt wird der Mann oder die Frau allerdings von den 28 Staats- und Regierungschefs der EU. Das Parlament darf den Kandidaten nur bestätigen oder ablehnen, aber keinen eigenen vorschlagen.
Was passiert zum Beispiel, wenn im Europäischen Parlament 2019 populistische und EU-skeptische Parteien aus Italien, Deutschland, Schweden erheblich an Sitzen gewinnen werden? Können sich die zerstrittenen Staats- und Regierungschefs überhaupt auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen? Das Personalpaket muss ja während der laufenden Haushaltsverhandlungen für die Periode von 2021-2027 geschnürt werden. Die Verhandlungen werden nach Ansicht des scheidenden deutschen Haushaltskommissars Günther Oettinger hart werden. Nicht auszuschließen, dass Italien, Ungarn oder Polen ihre Forderungen im Etatstreit mit Personalfragen vermengen. Vielleicht setzt aber auch der größte Nettozahler Deutschland seine Potenz als Hebel im Postengeschiebe an?
Manfred, wer?
Das Spiel um die EU hat 2019 also sehr viele Variablen. "Es wird sehr schwer, da den Überblick zu behalten", mutmaßt ein Diplomat in der Brüsseler Blase. Noch schwerer wird es für den europäischen Bürger überhaupt zu verstehen, wer da gegen wen antritt. Die Namen der Kandidaten sind der breiten Öffentlichkeit fast sämtlich unbekannt. Wer kennt schon den bayrischen CSU-Politiker Manfred Weber, der im September von den konservativen Parteien zum Spitzenkandidaten der Deutschen gekürt werden könnte? Falls Bundeskanzlerin Merkel das ins Kalkül passt.
Deshalb wird in Brüssel derzeit viel mit dem Bauchgefühl gearbeitet. Aus demselben mein Tipp für die vier Posten: EU-Kommissionspräsidentin Angela Merkel (Deutschland), Zentralbank-Chef Benoit Coeure (Frankreich), Parlamentspräsident Guy Verhofstadt (Belgien) und EU-Ratspräsidentin Dalia Grybauskaite (Litauen). Alle Angaben ohne Gewähr. Wie immer.