Die Bundeswehr als Parlamentsarmee
21. November 2012Über die Frage, wer darüber zu entscheiden hat, ob deutsche Soldaten im Ausland eingesetzt werden dürfen, mussten sich deutsche Politiker lange Zeit keine Gedanken machen. Nach dem Sieg über Hitler-Deutschland hatten die Alliierten zunächst die völlige Entmilitarisierung angestrebt. Entsprechend fehlte auch im 1949 in Kraft getretenen Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland ein Kapitel Streitkräfte. Der Aufbau der Bundeswehr, im eskalierenden Kalten Krieg von den Westalliierten nunmehr erwünscht, erfolgte erst nach heftigen innenpolitischen Debatten ab Mitte der 1950er Jahre. Mit einem klaren Auftrag: Landesverteidigung im Nato-Bündnis. An Auslandseinsätze war, mit der Ausnahme von Katastrophenhilfe, nicht zu denken.
Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts war diese Aufgabenverteilung hinfällig. Deutschland sollte auch sicherheitspolitisch mehr Verantwortung übernehmen. Aber auf welcher rechtlichen Grundlage? Thomas Giegerich, Direktor des Europa-Instituts der Universität des Saarlandes: "Das Problem wurde nach der Wiedervereinigung relevant, und es war umstritten, denn das Grundgesetz ist in dieser Hinsicht nicht völlig klar."
Keine militärischen Einsätze ohne Zustimmung des Parlaments
Für juristische Klarheit sorgte das Bundesverfassungsgericht in einem Grundsatzurteil im Jahr 1994: "Bewaffnete Einsätze der Bundeswehr bedürfen grundsätzlich einer vorherigen konstitutiven Zustimmung des Deutschen Bundestages." Mit der Wortwahl "grundsätzlich" deutete das Gericht an, dass es auch Ausnahmen zu dieser Regel geben kann. Etwa im Falle einer akuten Krise, bei der "Gefahr in Verzug" ist. Dann darf die Bundesregierung zunächst auch ohne Einbeziehung des Parlaments den Marschbefehl erteilen, muss dann aber den Bundestag um eine nachträgliche Zustimmung bitten. Verweigern die Abgeordneten sie, ist der Einsatz zu beenden. Wegen der weitreichenden Kompetenzen des Bundestages wird die Bundeswehr auch als Parlamentsarmee bezeichnet. Das 2005 beschlossene Parlamentsbeteiligungsgesetz legt die heute gültigen Verfahren fest.
Interpretationsspielräume und Kompetenzrangeleien
Trotzdem gibt es auch weiterhin offene Fragen, wie Thomas Giegerich im Gespräch mit der Deutschen Welle erläutert: "Die Frage ist zum Beispiel, was ein bewaffneter Außeneinsatz ist. Wenn die Bundeswehr 'nur' in ein anderes Land verlegt wird, um eine Art Abschreckungsszenario aufzubauen, dann könnte man an der Zustimmungspflicht ja zweifeln."
Und so kommt es in der Frage der Entscheidungskompetenz immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Exekutive und Legislative. Hans-Georg Ehrhart vom Hamburger Zentrum für Europäische Friedens- und Sicherheitsstudien: "Es gibt hin und wieder auch strittige Fälle, bei denen die Exekutive versucht, ihren Spielraum zu erweitern, und die Opposition darauf drängt, diesen Spielraum nicht zu weit zu fassen."
Zum Beispiel im Rahmen einer aktuellen EU-Mission in Somalia: Die Bundeswehr beteiligt sich dort, neben der vom Bundestag beschlossenen Operation Atalanta, die sich gegen Piraterie richtet, zusätzlich auch noch an der Ausbildung von somalischen Sicherheitskräften. Dafür holte die Bundesregierung nicht die Zustimmung des Parlaments ein. "Man hat gesagt, das ist eine rein zivile Sache, obwohl es Militärs sind, die dort tätig sind", erklärt Hans-Georg Ehrhart im DW-Interview.
Bundestagsmandat ist notwendig
Beide Experten sind sich jedoch einig, dass im aktuellen Fall – der möglichen Entsendung von Soldaten eines Patriot-Raketenabwehrgeschwaders in die Türkei - auf jeden Fall die Zustimmung des Bundestages eingeholt werden müsse. Thomas Giegerich: "Wenn ich mir das Szenario an der türkisch-syrischen Grenze vorstelle, da hab ich nicht den leisesten Zweifel, dass das Bundesverfassungsgericht hier feststellen würde, dass deutsche Patriot-Raketen in eine bewaffnete Auseinandersetzung einbezogen werden könnten." Die deutsche Bundesregierung hat eine entsprechende Befassung des Bundestags bereits angedeutet.